Mara Luiza Vieira Ceroni & Cláudia Abude
Bioenergetic Analysis • The Clinical Journal of the IIBA, 2019 (29) DE, 85–103
https://doi.org/10.30820/0743-4804-2019-29-DE-85 CC BY-NC-ND 4.0 www.bioenergetic-analysis.comDer vorliegende Artikel reflektiert mögliche Ursachen gewalttätiger Schießereien und Diagnosen daran beteiligter Personen. Die Strategien zur Prävention solcher gesellschaftlichen Tragödien bleiben einigermaßen kontrovers und in ihrer Zielrichtung ungenau, zumal es ihnen an Aufmerksamkeit in der theoretischen Auseinandersetzung fehlt (Rocque & Duwe, 2018). Der Fachliteratur zufolge ist eine der häufigsten Diagnosen in jenen Fällen die Schizoide Persönlichkeitsstörung (SPD) mit Symptomen der Bindungslosigkeit, Isolation und Schwierigkeiten im Kontakt mit anderen Menschen (DSM-5, 2013). Der Verlust der Fähigkeit, soziale Beziehungen und Nähe herzustellen, kann gelegentlich eine Psychotherapie erschweren, die gerade auf Entwicklung von Bindungsmöglichkeiten setzt. Die Statistiken der letzten 50 Jahre weisen einen dramatischen Anstieg der Gewalt Jugendlicher auf. Eine frühzeitige Diagnose ist daher von zentraler Bedeutung für die Prävention und Behandlung dieser Fälle. Gleichzeitig besteht ein dringender Bedarf an weiterer Forschung und Fallstudien (Rocque, 2017). Für diagnostizierte SPD-Patienten1 zeichnet sich die Bioenergetische Analyse durch einen therapeutischen Rahmen aus, in dem Annäherung und Kontakt Vorrang haben; sie wird ebenfalls geschätzt als ein Ansatz, der offen ist für neue Untersuchungsmethoden und Behandlungstechniken, die Menschen helfen sollen, ihr Herz dem Leben und der Liebe zu öffnen. Wird dieses Ziel nicht erreicht, sind laut Lowen (1991) die Folgen tragisch.
Stichworte: Schizoide Persönlichkeitsstörung (SPD), Amokläufer, Zwang, Bioenergetische Analyse, Kreativität.
»Mit verschlossenem Herzen durchs Leben zu gehen gleicht einer Reise über das Meer eingeschlossen im Schiffsbauch.«
Lowen, 1991
Überall auf der Welt gibt es Fälle von Einzeltätern, die Massaker an der Bevölkerung geplant und durchgeführt und dabei Dutzende Unschuldiger getötet oder verwundet haben. Laut einer Datensammlung, die über den Zeitraum von 30 Jahren vom SIM2 erhoben und vom Gesundheitsministerium in Auftrag gegeben worden war (Cerqueira et al., 2014), verzeichnete Brasilien eine Million Morde. Einige der berüchtigtsten sind im Folgenden aufgeführt:
Die höchste Anzahl solcher Fälle ereignete sich in den USA:
Weitere Ermittlungen zeigten, dass die Massaker Monate, manchmal Jahre zuvor geplant waren und aus Rache verübt wurden.
V. U. C. A. ist ein Akronym, das erstmals 1987 verwendet wurde, um die Unbeständigkeit (volatility), Ungewissheit (uncertainty), Komplexität (complexity) und Ambivalenz (ambiguity) zu beschreiben und zu reflektieren, die in der Welt nach dem Kalten Krieg herrschten – eine Reflexion, die auf den Führungstheorien von Warren Bennis und Burt Nanus8 basierte. Die häufigste Verwendung und Diskussion dieses Terminus – V. U. C. A. – gründet sich auf die neuen Konzepte strategischer Führung, wie sie bei einem breiten Spektrum von Organisationen globaler Unternehmen angewandt werden und gleichermaßen im Bildungssektor.
Dieses Konzept versucht die gegenwärtigen starken und überaus zerstörerischen Umwälzungen zu erklären, die zuallererst Teenager betreffen. Zwischen Extremen schwankend, macht sich der Jugendliche in der heutigen Welt auf seinen Weg, anfangs in stummer und sogar passiver Gleichgültigkeit angesichts so zahlreicher Herausforderungen, bis er schließlich mit oft blindwütigen Verhaltensweisen herausplatzt.
Amoklauf ist ein noch relativ neuer Begriff zur Beschreibung von Ereignissen, in deren Verlauf vier oder mehr Menschen in aller Öffentlichkeit erschossen werden. Die Wahl der Opfer kann zufällig erfolgen, oder sie werden symbolisch Ziel eines Racheaktes. Es handelt sich um Einzelfälle, das heißt es besteht keine Verbindung zu anderen kriminellen Taten wie Raub oder Terrorismus. Zu Risikofaktoren für Gewalt gehören psychische Erkrankungen und Spannungen zwischen den Geschlechtern. Theorien zum Hintergrund von Amokläufen konzentrieren sich auf Maskulinität, psychische Erkrankungen und den Nachahmungseffekt.
Solche Mordfälle, ob in der Folge mit oder ohne Suizid des Täters bzw. der Täter, sind für jede Gesellschaft entsetzlich und wirken verheerend auf Familien und ganze Gemeinden. Schießereien in Schulen oder an irgendeinem anderen öffentlichen Ort erschüttern die Gesellschaft bis ins Mark. Sie erzeugen Angst und Panik und lassen für uns die Frage nach den möglichen Ursachen offen. Darauf gibt es nicht nur eine einzige Antwort. Die Gründe, welche Menschen, die sogenannten »Amokläufer«, zu solch grausamen und gewaltsamen Taten treiben, sind äußerst komplex. Unter einem Amoklauf versteht man die versuchte Tötung einer Vielzahl von Menschen, teils im öffentlichen Raum, durch einen physisch präsenten Einzeltäter, der sich ohne innezuhalten seiner tödlichen Waffen bedient.
Präsident Barack Obama hielt eine Rede im Anschluss an einen Amoklauf in Connecticut, als ein Mann zuerst seine Mutter erschoss, dann zu einer Grundschule in Newtown ging und 20 Kinder sowie sechs Mitarbeiter tötete, bevor er sich selbst umbrachte. Obamas Worte waren:
»Wir können das nicht mehr tolerieren. Diese Tragödien müssen enden. Und um sie zu beenden, müssen wir uns ändern. Wir werden zu hören bekommen, dass die Gründe für diese Gewalt komplex sind, und das ist wahr. Kein einziges Gesetz oder Bündel von Gesetzen kann Böses ausrotten oder jeden sinnlosen Gewaltakt in unserer Gesellschaft verhindern. Aber es gibt keine Ausreden für Untätigkeit. Ganz sicher können wir es besser machen als bisher« (Spiegel Online, 17.12.2012).
»Wenn es auch nur irgendetwas gibt, das wir unternehmen können, um ein anderes Kind oder andere Eltern zu retten, oder eine andere Stadt […], dann haben wir gewiss die Pflicht es zu versuchen« (Anm. der Übersetzerin: Die Übersetzung des letzten Satzes stammt von der Übersetzerin).
2013 setzte die National Science Foundation (NSF) einen Fachberaterausschuss ein, um die Gründe für jugendliche Gewalt zu erforschen. Das Thema dieses Komitees lautete: Was wir über Jugendgewalt wissen und was wir noch über sie erfahren müssen. Zwölf Autoren aus den Bereichen Ökonomie, Sozial- und Verhaltenswissenschaften nahmen daran teil. Ihre Studie mit dem Ziel, Prävention, staatliche Maßnahmen und künftige Forschung zu fördern, wurde in einem Artikel veröffentlicht, der sich mit den Hauptfaktoren befasst, die einen Einfluss auf Jugendgewalt haben. Der Artikel enthält ebenfalls eine aktualisierte Liste entsprechender Ereignisse. Um unser Arbeitsvorhaben vorzustellen, beziehen wir uns auf diese Statistik anhand des Artikels von Bushman et al. (2016), der den oben genannten Bericht zusammenfasst und auf den neuesten Stand bringt. Das enthebt uns der Notwendigkeit, für jede Ausführung immer wieder die Quelle zitieren zu müssen. Es ist wichtig, zwischen Aggression und Gewalt zu unterscheiden. Alle Gewalttaten sind aggressiv, doch nicht jede Aggression ist eine Gewalttat. Gewalt wird definiert als eine Aggression, die darauf abzielt, extremen physischen Schaden zuzufügen, jemanden zu verletzen oder zu töten. Aktuelle Zahlen belegen, dass weiße männliche Erwachsene dabei die Statistik anführen; 85% waren im Durchschnitt zwischen 15 und 24 Jahre alt.
Gewalttätige oder wütende Streitigkeiten, die mit Morden enden, kommen in den USA häufiger vor als in jedem anderen entwickelten Land. Junge Amerikaner sterben öfter durch Mord als an Krankheiten wie Krebs, Herzinfarkt, genetischen Fehlbildungen, Lungenentzündungen und anderen Erkrankungen der Atmungsorgane, Schlaganfällen oder Diabetes. Es gibt Dokumente über Fälle von Disziplinlosigkeit in der Schule, die belegen, dass 84% der Missetäter in den sozialen Randgruppen zu finden sind.
Das Verhaltensmuster eines Amokläufers ist das eines Einzelgängers – allenfalls treten sie zu zweit auf – mit überdurchschnittlichem oder durchschnittlichem IQ. Sie werden als Gernegroß (»Wannabe«) beschrieben, das heißt sie wollen anders als die anderen sein und in großem Stil bewundert werden. Es mag dabei auch um Kompensation gehen, denn diese Jugendlichen sind häufig Opfer von Ausgrenzung, Ablehnung und Mobbing.
43% der Amokläufer bringen sich um, nachdem sie die größtmögliche Zahl an Opfern getötet haben. Studien besagen, dass diese Tat für sie wohl die einzige Möglichkeit gewesen sein mochte, Ruhm zu erlangen und gesehen zu werden. Oder ihr Wunsch »Ich möchte so sein wie die anderen« kehrt sich um – gleichsam ein Negativ in der Schwarz-Weiß-Fotografie. Scheitern wird erlebt als Versagen der Person an sich. Fehlende Akzeptanz seiner selbst und ein äußerst geringes Selbstwertgefühl führen zu Aggressionsschüben und moralischer Abwertung, die sich zunächst gegen die eigene Person richten. Dies können frühe Anzeichen einer psychischen Erkrankung sein, denen eine schwere Depression folgt, wie sie in 61% der Fälle diagnostiziert wird. In 78% der Fälle gibt es im Vorfeld einen Selbstmordversuch. Und in 68% der Fälle sind Schusswaffen zu Hause zugänglich.
Der Hauptunterschied zwischen Amokläufern, die auf der Straße töten und solchen, die dazu öffentliche Räume wie Schulen, Kinos etc. aufsuchen, besteht darin, dass erstere selten Suizid begehen. Obwohl die Gründe für gewalttätiges Verhalten ziemlich komplex sind, lassen sich in der vielfältigen Kombination von Einflüssen gewöhnlich vier Aspekte ausmachen: Zugang zu Schusswaffen, Konsum brutaler Medienbilder, psychische Störungen sowie mangelnde Unterstützung und das Fehlen schützender Faktoren im häuslichen und sozialen Umfeld während der frühen Entwicklung. Hier sind vor allem Vernachlässigung und Missbrauch in der Familie relevant.
Mit solchen Erkenntnissen sollte ein prophylaktisches Herangehen die Überprüfung der Eltern und des sozialen Umfelds von Kindern und Jugendlichen einbeziehen. Grausame, extrem strenge und abweisende, dazu oft ambivalente Eltern sollten unter genauer Beobachtung stehen, ebenso eheliche Gewalt, Missbrauch und Übergriffe. Derartige Geschehnisse machen das tägliche Leben zum Chaos. All diese Faktoren sind äußerst schädlich und der stabilen emotionalen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nicht zuträglich und fördern gewalttätige Nachahmung. Anstatt ihre Kinder und Jugendlichen zu schützen, setzen Familie und staatliche Einrichtungen sie allen erdenklichen Brutalitäten aus, wie die Reportage einer bekannten brasilianischen Online-Zeitung zeigt.9 Belege für ein geringes Gewaltrisiko in der Jugend finden sich dort, wo Bindung und Nähe unter Familienmitgliedern herrscht, wo das Kind Sicherheit und Stabilität in einer selbstregulierten und behüteten Umgebung erfährt. Die Entwicklung gewalttätigen Verhaltens könnte vielleicht vermieden werden, wenn es richtig erkannt und behandelt würde. Derartige Verhaltensweisen sind im Allgemeinen Anzeichen drohender Ausbrüche von Raserei.
Zahlreiche Forscher arbeiten daran, Gemeinsamkeiten von Amokläufern zu entdecken wie beispielsweise Familienleben, Persönlichkeit, Geschichte und Verhalten. Langman (2009) untersuchte zehn Fälle von Amokläufen in Schulen in dem Bestreben, nicht nur Ähnlichkeiten, sondern auch Unterschiede herauszufinden. Diese Jugendlichen wurden in drei Kategorien eingeteilt: Traumatisierte, Psychotiker und Psychopathen. Von Langmans zehn Fällen waren drei traumatisiert, fünf psychotisch und zwei waren Psychopathen.
Die meisten psychotischen Amokschützen hatten Erkrankungen im schizophrenen Spektrum, einschließlich Schizophrenie und Schizoider Persönlichkeitsstörung (SPD). Sozial ausgegrenzt, kalt, einsam und eigenartig – das ist für gewöhnlich die Sicht derer, die mit Menschen zusammenleben, welche unter Störungen im schizoiden oder paranoiden Spektrum leiden. Menschen mit diesen Störungen werden von ihrem sozialen Umfeld häufig als »seltsam« und schwierig im Umgang bezeichnet. Eins der wesentlichen Kontakthindernisse ist gerade ihr Misstrauen und die Furcht, Zielscheibe verletzender Handlungen zu sein.
Einige Charakteristika, die bei schizoiden Patienten hinsichtlich ihrer Körperstruktur und energetischen Verfassung beobachtet werden, bestätigen diese Angaben – darunter vor allem der Hinweis auf reduzierte Aggressivität, die, wenn sie sich in zwanghafter Form Bahn bricht, zu einer todbringenden Rage werden kann (Nascimento, 2016). Dieses unzureichend geladene energetische System, sei es aufgrund des Mangels an Energie, die in den Körperextremitäten – welche die Kontaktpunkte darstellen – zirkuliert, sei es wegen energetischer Desorganisation, spiegelt das innere Empfinden des fragmentierten Selbst.
Wie zuvor beschrieben, zeichnet sich die schizoide Persönlichkeitsstörung durch soziale Entfremdung aus. Dieses Muster eingeschränkter Emotionalität, Kälte und Apathie in zwischenmenschlichen Beziehungen sowie einer einsamen Lebensweise beginnt im Erwachsenenalter und wird in vielerlei Kontexten offenkundig. Menschen mit Schizoider Persönlichkeitsstörung zeigen keinerlei Wunsch nach Nähe und bleiben gleichgültig, wenn sich Gelegenheiten bieten, engere Beziehungen zu knüpfen. Ungeachtet all dieser Merkmale bemühen sich psychiatrische Fachkräfte, eine sichere Bindung im Interesse der Entwicklung eines psychotherapeutischen Prozesses herzustellen, der tatsächlich dazu beitragen kann, SPD-charakteristische Gewaltereignisse abzuwenden.
Darum geht es in diesem Artikel. Wir möchten dieses Ziel anhand der Präsentation eines klinischen Falls noch verdeutlichen. Bei der Diagnose von Psychopathie mit schlechter Prognose fühlen wir uns hilflos – sowohl in klinischer als auch in sozialer Hinsicht –, besonders angesichts der derzeitigen staatlichen Richtlinien. Doch im Fall von SPD können wir vielleicht Techniken entwickeln, die den Kontakt mit den Patienten und die weitere Behandlung jener sozialen Pathologien ermöglichen.
Massenmörder, insbesondere Amokschützen in Schulen, werden in der Fachliteratur als Psychopathen dargestellt oder aber als Personen, die auf Beleidigungen und Einschüchterungen mit Wut reagieren. Genauere Untersuchungen von Tagebüchern und Websites einer Untergruppe von Amokschützen ergeben jedoch ein Bild, das sich von den üblicherweise beschriebenen unterscheidet. Wie Erfahrungsberichte von Kollegen zeigen, wird die negative Behandlung, die diese Gruppe erfahren hat, von ihr selbst stark überbewertet. Sie ist besessen von der Idee, von einer Elite abgelehnt zu werden, die in ihren Augen zu unverdientem und unfairem Erfolg gelangt ist. Anstatt die Zurückweisung zu überwinden, schmieden die Jugendlichen Pläne zur Vernichtung der Aggressoren als Rache für die erlittene Schmach. Der selbstschädigende und obsessive Charakter dieser Vorstellungen entspricht eher paranoidem Denken als der Psychopathie. Die paranoide Persönlichkeit hat eine Wahrnehmung, die sich auf ein geschlossenes Glaubenssystem stützt. In seltenen Fällen, wenn die Täter die Schießerei überleben, werden sie als schizophren-paranoid diagnostiziert. Es liegt ein präpsychotischer Verfall ihres Denkens vor (Dutton et al. 2013).
Psychiatrische Aspekte spielen eine wichtige Rolle bei der Einschätzung von Risikofaktoren und bei der Prävention. »Alone and adrift« (»Allein und verlassen«) ist der Titel eines Artikels, der unseres Erachtens einer Realität entspricht, die Jugendliche dieser Risikogruppe erleben (Baird et al., 2017). Persönlichkeitsstörungen zeichnen sich aus durch die Beeinträchtigung der Funktionalität der Persönlichkeit sowie durch pathologische Züge. Jede Persönlichkeitsstörung ist definiert durch typische Funktionseinschränkungen (Kriterium A) und charakteristische pathologische Persönlichkeitsmerkmale (Kriterium B im DSM-5) (2013, S. 947).
Ärger als Persönlichkeitsaspekt disponiert wesentlich zu aggressiv agierter Wut. Die individuellen Unterschiede hängen mit dem Persönlichkeitsfaktor Wut zusammen, eine Dimension der Persönlichkeit bezogen auf Frequenz, Intensität und Dauer von Wutgefühlen. Menschen mit einem hohen Wut-Index nehmen Situationen eher als feindlich wahr und sind weniger in der Lage, ihre Gedanken und Gefühle zu kontrollieren. Außerdem zeigen sie sich stärker motiviert, in bedrohlichen Situationen Nähe zu suchen. Ein hohes Maß an in der Persönlichkeitsstruktur verankertem Wutpotenzial ist begleitet von zunehmender Urteilsverzerrung mit biologischen und Verhaltensmerkmalen, die wiederum feindseliges Denken verstärken. (Veenstra, et al. 2018)
Für Lowen (2012) verhält sich der Horror direkt proportional zum Mangel an menschlichem Kontakt und an Nähe in Beziehungen. Er betrifft uns alle und wird zur Quelle der Gewalt in unseren Städten:
»Die Menschen fühlen sich isoliert und sprechen kaum noch miteinander. Keiner vertraut dem anderen. Jeder lebt in seiner eigenen Welt. Die Business-Maschinerie großer Zentren hat einen erschreckend unpersönlichen Aspekt; es ist der Verlust menschlicher Werte. Das Leben in der modernen Welt ist entmenschlichend geworden und das Markenzeichen ist Gleichgültigkeit. Es ist die Zerstörung der persönlichen Würde. Es ist Vulgarität, Pornografie und Schmutz. Es kümmert niemanden, weil Sich-Kümmern als unnütz betrachtet wird.«
Auf der Grundlage der Fachliteratur sowie der Beobachtung der Jugendlichen, die heutzutage in unsere Praxis kommen, sind wir überzeugt, dass die Bioenergetische Analyse einen großen Beitrag liefern kann, was dieses Milieu der Kargheit im menschlichen Kontakt betrifft. Die Bioenergetische Analyse (BA) bietet Flexibilität in der Behandlung und kreative, offene Vorschläge, wie Kontakt im Hinblick auf eine Bindung (bonding) herzustellen ist. Zitieren wir Lowen (2012):
»Keine Therapie hängt wirklich von der Art des Herangehens an das Problem ab. Der wirklich wichtige Handelnde ist in jeder Therapie der Therapeut mit seinem Verständnis des Problems, seiner Sensibilität und menschlichen Wärme. Diese Faktoren sind wesentlich bei der Behandlung dieses Problems. Die Irrealität im Patienten wird mit der Realität menschlichen Fühlens im Therapeuten konfrontiert, und diese Konfrontation kann die Heilungskräfte im Patienten mobilisieren.«
Diese Patienten sind nicht offen für verbale Interpretationen. Um erfolgreich zu sein, muss der Analytiker sich mit ihrem innersten Kern von Schutz und Abwehr verbünden und die Bedürfnisse des Patienten tolerieren, ohne sich beleidigt zu fühlen. Der Fokus sollte auf der Kommunikation und Empathie der therapeutischen Beziehung liegen, indem man ein inneres Grounding schafft, das Vertrauen, Unterstützung, Fürsorglichkeit, Anerkennung und Bindung umfasst (Weigand, 2005).
Der Patient mit einer schizoiden Charakterstruktur ist sehr regrediert, und das macht ihn äußerst rigide und unerreichbar. Hier sehen wir jemanden, der sich nicht ausdrücken kann; dahinter verbirgt sich die ganze Dimension des Schreckens, bezogen auf Liebes- und Hassgefühle, den sie in sich tragen. Es wird keine Unterscheidung gemacht zwischen dem, was real ist oder nicht, und der Patient ist fähig, die destruktivsten Fantasien in die Tat umzusetzen.
Die typischen Merkmale von Personen mit Schizoider Persönlichkeitsstörung, die wir gewöhnlich in unserer Praxis antreffen, sind folgende: Schwierigkeit, Gefühle zu benennen und über sie zu sprechen; Veränderung in Wahrnehmung und Verhalten, verbunden mit einem verzerrten Selbstbild und inkohärenten persönlichen Zielen sowie eingeschränkter Gefühlsausdruck. Sie wehren sich gegen jegliche Kontaktmöglichkeit, finden es schwierig, eine Verbindung herzustellen und lassen sich keinesfalls persönlich ein. Man hat den Eindruck, sie könnten jeden Moment die Therapie abbrechen. Sie kommen auf Anfrage einer zweiten Person in die Praxis, erkennen die Anfrage nicht als ihre eigene an und errichten somit eine sichere Barriere zwischen Patient und Therapeut. Nachnährendes Halten, Blickkontakt und Grounding-Techniken sind hilfreich, um in konstanter Offenheit in Verbindung zu bleiben und laden gleichzeitig ein, Nähe und Bindung herzustellen.
»Es ist daher für den Therapeuten unerlässlich, Augenkontakt mit dem Patienten herzustellen […]. Wichtig ist zu wissen, dass, wenn man die Sicht des Patienten nach außen öffnet, man zugleich seine Sicht nach innen öffnet. Bei dieser Persönlichkeit ist es vielleicht die wichtigste Art und Weise, den Patienten Einsicht gewinnen zu lassen. Ich könnte hinzufügen, dass ich den Patienten zur Öffnung nach außen in meine Augen schauen und deren Ausdruck in sich aufnehmen lasse« (Lowen, 2012).
Verspieltheit und kreative Techniken können ebenfalls ein Weg sein, den Patienten einzubeziehen und Nähe herzustellen. Schizoide Patienten gelten als eingesperrt in ihrem eigenen Geist, ohne Zugang zu Imagination, und sie sind abgetrennt von ihren Bedürfnissen und Gefühlen, um sich vor den schrecklichen Gefahren menschlicher Beziehung zu schützen, die sie gefangen hält in einer Welt von Verletzlichkeit, Bedürfnissen, Nöten, Verlust und Zerstörung. Es ist Aufgabe des Therapeuten, diesen Patienten das Außen/Innen begreiflich zu machen, indem er ihnen hilft, das Reale vom Irrealen zu unterscheiden und vor allem ihre Fähigkeit zu träumen wieder zu erwecken. Der Ursprung der Analyse liegt in dem Vorgang des Einschlafens (Ruhe) und Aufwachens (Aktivität) und der Fähigkeit zu träumen (Kreativität). Der Traum ist der Inbegriff aller psychischen Fähigkeit im Erwachsenenleben« (Kahn, 1976).
Wie ist es denn möglich, dieses Maß an Austausch mit einem Patienten zu erreichen, der keine Annäherung zulässt? Wie kann man Zugang zu der Welt bekommen, die er uns präsentiert, und ihm eine Forderung nahebringen, die im Prinzip nicht die seine ist? Indem der Analytiker das Bedürfnis nach Schutz, Bestärkung und Bestätigung dieser Patienten respektiert, kann er eine einfühlsame Haltung mit spielerischen Elementen verbinden und mit neuen Gefühlen, Sehnsüchten, Hoffnungen und Erwartungen experimentieren.« Das leichte und spielerische Herangehen des Analytikers an die von diesen Patienten empfundenen Schrecken von Hass und Liebe zielt darauf ab, ihnen eine neue Beziehungsmöglichkeit zu zeigen« (Coen, 2005).
Interpretative Sitzungen können invasiv und bedrohlich sein, weil der Patient nicht gewohnt ist, gesehen zu werden, und in seiner Erinnerung ist Beobachtet-Werden verknüpft mit Angriff und Demütigung. Minimal interpretative Sitzungen im Wechsel mit spielerischen und kreativen sind einfacher zu tolerieren. Es ist wie ein Spiel zwischen Patient und Therapeut, in dem ein intuitiver Rollentausch von Beobachter und Beobachtetem stattfindet, und das so das Teilhaben eines jeden an der Welt des anderen ermöglicht.
Männlicher Patient, ein 21-jähriger junger Mann mit einer Vorgeschichte von Isolation und punktuellen Aggressionsattacken. Bei einem dieser Vorfälle schlug er gegen die Tür, um nicht seinen Onkel zu treffen. Bei einem weiteren verlor er aus unersichtlichem Grund die Kontrolle gegenüber seiner Mutter, wie sie selbst berichtete. Sie dachte, er wollte sie schlagen. Diese beiden Episoden ereigneten sich, nachdem dieser junge Mann (im Folgenden B genannt), der allein und ohne Freunde lebte und wenig Zeit mit seiner Familie verbrachte, alle Spiegel in seinem Wohnraum und Badezimmer bemalte und mit Papier abdeckte und erklärte, er wolle sein eigenes Bild nicht sehen. Besorgt über diese Verhaltensweisen und die beharrliche Weigerung ihres Sohnes, Hilfe anzunehmen, suchte die Mutter ihm einen Analytiker aus. Sie gestand auch, Angst zu haben. Diese Tatsache ist bemerkenswert, denn obwohl der Klient mit seinem dünnen, zerbrechlichen Körper durchaus friedfertig wirkte, hatte der Therapeut in seiner Gegenwart genau diese Gegenübertragung.
Unsere Begegnungen begannen als eine Art Training zum Thema Drogenkonsum. In dieser Weise nahm B darauf Bezug. Im Laufe der Zeit bemerkte ich, dass sein Interesse möglicherweise von der Sorge um seinen Vater und dessen Alkoholismus herrührte. Die Eltern hatten sich getrennt, und derzeit besuchte B seinen Vater sehr selten. Weder Mutter noch Vater hatten neue Familien gegründet. B lebt bei seiner Mutter und einer 18 Monate älteren Schwester. Er wurde in der 37. Schwangerschaftswoche geboren – zwei Tage nach einer Ultraschalluntersuchung, während der alle fünf Minuten ein Hupen ertönte, um den Herzschlag des Fötus zu beschleunigen. Dieser »Schockeffekt« wurde von dem Arzt verordnet, der den Fötus für zu ruhig hielt und glaubte, er zeige nicht genügend Bewegung.
Wird der Rhythmus eines Menschen nicht respektiert, können wir von einer grenzverletzenden Erfahrung sprechen. Die erste fand noch vor Bs Geburt statt und wiederholte sich im Laufe der Jahre. Wie ein Muster wurden aufeinanderfolgende Übergriffe als erhebliche Brüche in seinem Wachstumsrhythmus erlebt, und seine emotionale Entwicklung wurde schwer beeinträchtigt.
Die zweite traumatische Erfahrung: Seine Familie zog nach Übersee, als B anderthalb Jahre alt war. Das Abstillen wurde erzwungen und endete in Bs lang anhaltendem Schreien. B begann wenig zu schlafen und wachte häufig auf. Er nahm die Babyflasche nicht an. In jener Zeit gab B nur Laute von sich und begann erst im Alter von vier Jahren seine ersten Worte zu sprechen.
Die dritte Erfahrung mit abruptem Rhythmuswechsel: B kam als Zweijähriger in die Vorschule, möglicherweise bevor er dazu die emotionale Reife hatte. Er gewöhnte sich nicht ein. Mit vier Jahren kehrte er in sein Herkunftsland zurück. Seine Mutter beschreibt ihn als ein Kind, das »in seiner eigenen Welt« lebt. Es war das erste Symptom, dass irgendetwas in der Beziehung zu anderen nicht stimmte, vielleicht auf einen ernsten Mangel in seinem Umfeld hindeutete (Winnicott, 1945), und B zog sich in seine private Welt zurück auf der Suche nach einer gewissen Einförmigkeit, die er in seiner Beziehung zur Außenwelt nirgends finden konnte. Er liebte prähistorische Tiere und fügte gern ähnliche Dinge wie Steine oder Zweige zusammen oder reihte gelbe oder blaue Gegenstände aneinander. In seinen Taschen und Schuhen nahm er Steinchen mit in die Schule – vielleicht in dem Bemühen, seine zerstörte seelische Ordnung zu reparieren und etwas Sicherheit zu gewinnen. Die Struktur der psychischen Abwehr gegen seine emotionale Realität war nicht adäquat ausgebildet. Erfahrungsgemäß wird aus diesem Grund die frühe Ich-Entwicklung pathologisch und fragmentiert. Um diesem Patiententypus zu helfen, bekommt man es zwangsläufig mit einem primitiven geisterhaften und gespenstischen Leben zu tun. Derart primitive Zustände von Abhängigkeit und undifferenzierter, nicht integrierter Affektivität sind der Ursprung von Negativität und enden meist im Widerstand gegen die Analyse, die letztendlich eine Konfrontation mit der Realität ist, über die solche Patienten kaum Kontrolle haben (Khan, 1976).
Vierter Übergriff: Im Alter von fünf Jahren ging er in eine sehr große traditionelle Schule; er begann sich vor dem Schulweg zu erbrechen und zu weinen, und seine Mutter nahm ihn nach drei Monaten wieder heraus. Er kam in die erste Klasse der Grundschule, lernte aber nicht Lesen und Schreiben. Der Lehrer betonte immer wieder, dass B faul sei. Er suchte einen Neurologen auf, dessen Diagnose lautete, alles sei in Ordnung, er sei ein kreatives Kind, wie die Ergebnisse der klinischen Untersuchungen zeigten.
B konnte sehr gut zeichnen; heute weigert er sich, das zu tun und behauptet, er sei nicht gut »darin«. Er kam als Achtjähriger in die zweite Klasse und begegnete C., seinem bisher einzigen Freund. Die Schule schickte ihn zur Förderung zu einer Psycho-Pädagogin, die Legasthenie bei ihm feststellte. Diese Fachkraft arbeitete weitere fünf Jahre mit ihm – drei Mal pro Woche. Sie benutzte Tabellen, um ihm Lesen beizubringen. Wenn er den ganzen Tag dort bleiben musste, begann er krampfhaft zu weinen. Fünfter Übergriff.
Wir stellen eine Reihe von fünf invasiven Ereignissen fest – invasiv, weil Bs Rhythmus nicht respektiert wurde und der Selbstregulierungsprozess nicht stattfinden durfte. Angesichts eines psychischen Zustands, der immer wieder von Fremdeinmischungen bedroht war, sucht B ein wenig Ordnung und Routine10 in all seinen Beschäftigungen, selbst in der Art, sein Essen auszuwählen und zu sich zu nehmen. Jeden Tag aß er auf die gleiche Weise: Reis, Bohnen und Fleisch und Kartoffeln. Alles ohne Sauce und separat.
Im Alter von 13 Jahren wurde bei ihm eine Depression diagnostiziert, da er den Wunsch zu sterben äußerte. Es war der kumulative Effekt der erlebten Traumata. Er wurde ein Jahr lang mit Fluoxetin behandelt. Die Befriedigung körperlicher und emotionaler Bedürfnisse hilft einem Kind normalerweise beim Heranwachsen und bildet seine Schutzbarriere. In Bs Fall hat die Häufung der Traumata Lücken in diese Barriere gerissen. In seinen noch instabilen Funktionen braucht jedes Kind bis zur Adoleszenz Unterstützung und Rückhalt von einem Erwachsenen. Das kumulierte Trauma ist das Ergebnis von in der Kindheit erlebten Spannungen und Stresssituationen in einem Kontext völliger Abhängigkeit. Die Reaktion hängt von Dauer, Intensität und Wiederholung des Traumas ab und erreicht ihr Ausmaß durch Akkumulation und in Abhängigkeit von der Sensibilität des Kindes. Die Funktion der Schutzbarriere erfordert Vitalität, Anpassungsfähigkeit und Organisation. Störungen können in dreierlei Form auftreten; die schwerste davon ist die Grenzverletzung, die eine Psychose auslöst. Zwang und Manie sind »Manöver der Psyche« und haben die Wiederherstellung des verlorenen Gleichgewichts und die Integration des Ichs zum Ziel (Khan, 1976).
Wie wir an Bs Biografie erkennen können, war das Erleben wiederkehrender – wegen ihrer Intensität und Dauer vermutlich traumatischen – Situationen mehr als er ertragen und verarbeiten konnte.
Die Betrachtung seiner körperlichen und energetischen Muster bestätigt die Aspekte seiner Psychodynamik und die gestellte Diagnose: Spannung an der Schädelbasis, die eine Kopf-Körper-Trennung erzeugt; das Fehlen von Gefühlsausdruck, was auf den Mangel an Lebensfreude, Intensität oder Strahlkraft hinweist. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch einen kalten, leeren und distanzierten Blick, unzureichend energetisch versorgte Haut, die im Allgemeinen blass und kühl ist – ein hochgewachsener dünner Typ mit Armen, die an ihm zu baumeln scheinen. Sein Äußeres zeigt keine Vitalität und Ausdruckskraft; er läuft wie ein Roboter, gefroren, mit zarten Gesichtsmuskeln und maskenhaftem Erscheinungsbild (Nascimento, 2016).
Wenn bei diesem Typ Störung die vermenschlichenden Bande nicht wieder zusammengeführt werden und für neue Erfahrungen sorgen, die den Menschen aus seiner Unpersönlichkeit holen, können aufgrund von Hoffnungslosigkeit und Verbitterung destruktive Aspekte die Oberhand gewinnen.
Der Verlauf des therapeutischen Prozesses zeigte, dass diese Einschätzung mit Bs innerem Universum übereinstimmte, als nach einem Jahr Therapie seine Mutter noch einmal einbestellt wurde. Sie berichtete, sie sei erleichtert, da ihr Sohn weniger isoliert war und etwas mehr unter die Leute kam. Er begann mit Freunden auszugehen, hörte auf, Videospiele zu spielen und wechselte zu Polizeispielen oder solchen mit Helden auf Rettungsmission. Es gab Puppen und Rennwagen (Spielzeugautos), wobei er der Held war, der gegen Monster kämpfte. Sie bemerkte auch eine Besserung seines Selbstwertgefühls, da er sein Brillengestell wechselte und sich aufmachte, um sich neue Kleidung zu kaufen, was normalerweise sie besorgen musste.
Ich möchte diese Fallbeschreibung mit dem folgenden bestärkenden Satz abschließen, den ich mich selbst in einer unserer Sitzungen angesichts Bs Unsicherheit und seiner schrecklichen Verlegenheit sagen hörte: »Du weißt doch, ich habe dich schon angenommen; streng dich nicht an mir gefällig zu sein, es ist nicht nötig. Nutze diese Versicherung, die ich dir gebe, um zu versuchen, du selbst zu sein und deine Persönlichkeit zu stärken.«
»Psychology is an exercise of imagination« (Khan, 1976). B weigerte sich, unsere Zusammenkünfte als Therapie zu bezeichnen. Er sagte immer, er komme zum Plaudern, zum Reden. Dabei gab es nie Körperkontakt. Da er nie danach fragte und neben seinem Widerstand gegen Körperarbeit und jeglichen Körperkontakt überhaupt große Schwierigkeiten hatte, etwas in Worte zu fassen, galt es, einfühlsam und intuitiv Alternativen zu finden, um ihm näherzukommen. Die Methode dieses Therapeuten (Khan) war es, neben dem Klienten zu sitzen und ihm vorzuschlagen, Bücher zu lesen, die ihn interessierten oder Bilder und Comics anzuschauen. Wir begannen von einer Sitzung auf die andere Bücher auszutauschen und über ihren Inhalt zu sprechen. Ich versuchte beständig, mit diesem Material ein Band zu knüpfen, das zwischen uns wie ein Übergangsobjekt wirken sollte. Selbst neben ihm sitzen zu können, brauchte eine gewisse Zeit. Er akzeptiert noch immer keine Körperarbeit, und bis jetzt ist die einzig mögliche Annäherung das Seite-an-Seite-Sitzen. Inzwischen allerdings mit weniger Misstrauen und größerer Aufnahmebereitschaft.
Beschreibung zweier Sitzungen im Einzelnen.
Ein Traum zwischen zwei Menschen …
Paul Klee, Ansicht v. Kairuan, 1914
Bei der Lektüre des Buches über Bilder und Biografie Paul Klees vermutete der Klient, dass sich der Künstler im Alter von 20 Jahren und während einer ganzen Dekade nicht wohlfühlte. Seine Gemälde waren schwerer und dunkel. Mit 30 ging es ihm schon besser, und er malte farbenfroher und freudiger. (Projektion seines gegenwärtigen Lebens und ein hoffnungsfroher Ausblick in die Zukunft?) Gemeinsam entwickelten wir eine Geschichte auf der Grundlage des Gemäldes »Ansicht von Kairouan«, das B sich ausgesucht hatte.
Wegen Bs Schwierigkeit, einen Anfang zu finden, beginnt die Therapeutin: »Es war einmal eine Zeit, da gab es eine Traumstadt, in der Menschen wohnten …«
Banal (einfach, gewöhnlich).
Sie arbeiteten mit …
Wandteppichen und Handel …
Eines Tages kam ein Reisender aus einem sehr weit entfernten Land … (Können wir hier ableiten, dass der Reisende aus einem fernen Land der Patient selbst ist? Zurückgezogen in seine inneren Welten und Ängste, ohne die Fähigkeit sich zu öffnen/sich anderen zu zeigen, mit der Angst vor Übergriffen und dem Gefühl, in seinem eigenen Inneren ein Fremder zu sein?)
Er war von der Stadt verzaubert und beschloss sie unsterblich zu machen. (Hier eine Analogie zum Therapeuten, wie das ferne Land draußen. Offenbart die Idealisierung in einer positiven Übertragung einen Besitzwunsch durch Einverleibung?)
Dann suchte er einen Weisen auf, der einen Zaubertrank herstellen konnte, um die Stadt zu verewigen …
Der Weise bot ihm ein Farbenelixier.
Der Reisende nahm die Farbe und strich sie überall aus.
Über die ganze Leinwand und hat eine schöne Ansicht kreiert. (In diesem Moment gibt es eine Kontinuität gemeinsamen Schaffens; B geht etwas mehr aus sich heraus.)
Das Volk auf dem Platz fragte den Reisenden: Wie willst du die Stadt unsterblich machen?
Durch die Kunst!
Es ist interessant zu sehen, dass die Therapeutin jedes Mal einen Satz wie ein Stichwort vorgibt: »Die Tür bleibt offen«, als ob sie in einem Spiel kollektiver Schöpfung den Ball dem Klienten zuspielte. Letzterer findet seinerseits einen jeweils dazu passenden Satzschluss, der den Dialog beendet.
Henri de Toulouse-Lautrec, Ball im Moulin Rouge, 1890
Bei der Lektüre des Buches über Bilder und Biografie von Toulouse-Lautrec wählt B das Bild »Im Moulin Rouge, Der Tanz«. Die Therapeutin ermutigt ihn anzufangen mit der Bemerkung, dass sie beide ja bereits eine sehr gute erste Geschichte erdacht hatten. B stellt zögerlich fest, dass ja sie die Aktive war, die den Anfang machte. Da die Therapeutin merkt, wie schwierig es für den Patienten ist, anzuerkennen, dass er etwas gut gemacht hat, beginnt sie:
Wir gingen zu einer Party ins Moulin Rouge … Ich und B …
Alle waren weit entfernt, mit Ausnahme eines jungen Mädchens, das aus der Menge hervortrat.
Diese junge Frau sah in einem gewissen Moment zu uns herüber …
Mara war fasziniert und ging zu ihr, um sich vorzustellen.
Sie hieß Claire. Sie wollte, dass ich ihr B vorstellte.
Ich wäre schon nach Hause gegangen. Diese Partys sind eine ziemliche Katastrophe … (an diesem Punkt gibt es eine Mischung von Patient und Charakter – Kommentar am Schluss)
stellte sich vor und fragte, wo sie tanzen gelernt hatte
Sie antwortete knapp und wurde auf die Bühne gerufen.
Dann bemerkte die Therapeutin Bs Verzweiflung und fragte ihn: Was ist los mit Ihnen?
Eine Menge Leute, stimmt’s?!
Was macht das mit Ihnen?
Ich kann das wirklich nicht leiden, es beunruhigt (mich). (Wir können vermuten, dass die Auslassung des Personalpronomens »mich« – ein nicht vorhandenes Objekt – das Subjekt objektiviert. Überdies nimmt es ihm das Menschliche. Als hätte B kein fühlendes »Ich«, und B scheint Dinge zu fühlen, die durch ihn hindurchgehen, die ihn passieren oder invadieren. Die schützende muskuläre Hülle war nicht genügend ausgebildet.)
Zeit zu gehen!
Wir sehen in der Gestaltung dieses zweiten Dialogs, dass B schon dabei ist, das Erfindungsspiel mitzuspielen, indem er der Therapeutin zur Weiterführung des Satzes ein Stichwort gibt. Dessen ungeachtet gibt es eine deutliche Vermischung von Fiktion und Realität, die wir seinem Seelenzustand zuschreiben können, der ständig Übergriffe erlebt – ohne Grenzen zwischen innen und außen. B verlässt innerlich die Szene, in der er gleichzeitig körperlich präsent ist. Niemand, keiner von uns beiden, war tatsächlich auf einer Party oder an einem öffentlichen Ort gewesen, und dennoch fühlt sich B schlecht einfach durch die Vorstellung, dass er dort war, an diesem eingebildeten Ort. Es gibt keine Unterscheidung zwischen dem Gefühlten und dem Gelebten oder Erfahrenen; es gibt keine Grenzen. Aus diesem Grund besteht die Gefahr, dass diese Persönlichkeitsstrukturen ihre destruktiveren Fantasien in die Tat umsetzen. Hier zeigen sich die Pathologien des Agierens.
Die Gewaltakte werden von einer Vielzahl Faktoren beeinflusst, die im Allgemeinen zusammenwirken. Wir können von einigen Belegen für die möglichen Risiken und schützenden Faktoren bei Gewaltausbrüchen von Jugendlichen sprechen, die die Notwendigkeit prophylaktischer Behandlung unterstreichen. Frühzeitiges Einschreiten und Diagnostizieren, verbunden mit einer Diskussion über aktuelle Möglichkeiten der Reduktion jugendlicher Gewalt sowie Vorschläge für künftige Forschungsprojekte sind überaus wichtig, um die Fortsetzung der Gewaltauswüchse und gesellschaftlicher Tragödien zu vermeiden.
Der therapeutische Rahmen erlaubt Nähe und bietet einen sicheren Ort, um Kräfte für die Gesundheit des Patienten zu mobilisieren – gegen die Übergriffe und das Eindringen der Außenwelt. Er bietet eine ansprechende Umgebung für eine umschriebene Zeitspanne, die vorhersagbar und sich wiederholend ist, mit Anfang und Ende, der in hohem Maße helfen kann, die zerstörten oder unzureichend aufgebauten Grenzen wiederherzustellen. Durch die Entwicklung einer sichereren und weniger durchlässigen »Tonischen Hülle«11 wird die Persönlichkeitsstruktur gestärkt, gesünder und anpassungsfähiger. Lowen bezeichnete dies als den Willen zum Leben.
»Schizoide Patienten zeigen Hyperaktivität im Verhalten und eine ausgeprägte Tendenz zu Manien oder dem Gegenteil, Trägheit und Apathie. Beide sind zurückzuführen auf exzessive Angst, die in Gegenwart des Analytikers Rückhalt und Ruhepause findet« (Khan, 1976).
Übersetzung: Irma Diekmann
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Mara Luiza Vieira Ceroni, MSc, CBT ist approbierte Psychotherapeutin in privater Praxis in São Paulo, Brasilien und im Kurs über das Unterrichten von Zwangsstörungen am Institut für Bioenergetische Analyse IABSP. Sie ist Mitglied des IIBA.
Cláudia Abude ist seit 2009 approbierte Psychologin in Brasilien. Sie ist in privater Praxis in São Paulo tätig und hat sich im Fach Klinikpsychologie spezialisiert. Seit 2013 arbeitet sie ebenfalls mit Transgender-Klienten in Gruppen- und Einzeltherapie. Derzeit schließt sie ihre Ausbildung in Bioenergetischer Analyse ab und schreibt ihre Arbeit über Zwänge.