Lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intersexuelle und queere Menschen

Einige Herausforderungen für Theorie und Praxis bioenergetischer Therapeut*innen1

Thomas Heinrich

Bioenergetic Analysis • The Clinical Journal of the IIBA, 2019 (29) DE, 61–84

https://doi.org/10.30820/0743-4804-2019-29-DE-61 CC BY-NC-ND 4.0 www.bioenergetic-analysis.com

Zusammenfassung

Mit der Internationalen Konferenz des IIBA 2007 in Sevilla wurde öffentlich, dass sich die bioenergetische Einstellung gegenüber lesbischen, schwulen und bisexuellen Lebensweisen komplett gewandelt hatte hin zu Akzeptanz und Unterstützung. Gleichzeitig kamen die Veröffentlichungen zu diesem Thema in der bioenergetischen Welt zum Erliegen. Die entstandene Kluft zum mittlerweile gewachsenen Wissen der lsbtiq*2 affirmativen Forschung wird hiermit geschlossen durch Informationen über die Lebenssituation von LSBTIQ*, durch einen empathievollen Perspektivwechsel auf die lsbtiq* Welt und durch Vorschläge, wie ein bioenergetischer affirmativer Ansatz für die körperorientierte Psychotherapie mit lsbtiq* Klient*innen gestaltet werden könnte.

Stichworte: Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung, Geschlechtsrolle, Lesben, Schwule, Homosexualität, Bisexualität, Trans*, non-binär, Inter*, queer

Einleitung

Als Schwuler befand ich mich zu Beginn meiner Therapieausbildung in einem Dilemma. Einerseits war ich völlig überzeugt von der Theorie der Bioenergetik, die auf Wilhelm Reichs Forschung und ihrer Weiterentwicklung durch Alexander Lowen basiert, andererseits erfuhr ich in deren Theorien eine absolute Diskriminierung nicht-heterosexueller Formen der Sexualität (Lowen, 1965).

Zur selben Zeit wurde ich Mitglied des VLSP3, des deutschen Zweigs der ALGBP, der Association of Lesbian and Gay Psychologists. Dort gab es eine intensive Diskussion über affirmative Forschung und Ansätze zur Psychotherapie mit Lesben und Schwulen, ausgehend von Hookers Arbeit (1957), die 1973 – gegen den Widerstand der American Psychoanalytic Association – zur Streichung von Homosexualität als Krankheit aus dem DSM der American Psychiatric Association führte. Der VLSP wurde zu einer Quelle der Unterstützung für mich. In der Folge konnten beispielsweise meine Kolleg*innen und ich ein Projekt für die psychiatrische Arbeit mit Schwulen starten (Heinrich & Biechele, 2006; Biechele, Hammelstein & Heinrich, 2006).

Ich bemerkte, dass Reichs und Lowens Einstellung – insbesondere zu Leben und Sexualität schwuler Männer – der Haltung der Psychoanalytiker der zweiten Generation ähnelte. Rado (1940) kritisierte Freuds These einer natürlichen Bisexualität und akzeptierte nur Heterosexualität als natürlich. Socarides (1968) führte Rados Thesen sogar noch weiter aus, indem er jegliche Art nicht-heterosexuellen Lebens entwertete. Daher kam ich zu dem Schluss, dass Lowen vielleicht seine schriftlichen Aussagen hinsichtlich der Entwertung nicht-heterosexuellen Lebens hinterfragen sollte, zumal sie schließlich keinen Grundpfeiler seiner Arbeit darstellten. In der Folge bewarb ich mich um die Weiterbildung zum Bioenergetischen Analytiker und begegnete auf den ersten Blick Offenheit und freundlichem Willkommen. Auf den zweiten Blick nahm ich einen Mangel an Wissen wahr sowie versteckte Vorurteile, die bestenfalls explizit benannt wurden.

Nach meiner Ausbildung versuchte ich die Diskussion über bioenergetische Arbeit für Schwule und Lesben zu eröffnen, auch indem ich 1999 mit Kolleg*innen PLUS gründete, die Psychologische Lesben- und Schwulenberatung Rhein-Neckar e.V. Auf dem Internationalen Kongress des IIBA 2005 in Cape Code, USA hielt ich einen Vortrag mit dem Titel »Lesben, Schwule und Bisexuelle – Bioenergetik mit unbekannten Spezies«. Ich entdeckte, dass es dort einen weiteren Vortrag mit einem sehr ähnlichen Thema gab und machte zu meiner großen Freude die Bekanntschaft von Louise Frechette aus Kanada und lernte ihre bioenergetische Arbeit mit Lesben und Schwulen kennen.

Bei dem folgenden Internationalen Kongress des IIBA 2007 in Sevilla erlebte ich meinen bisher wichtigsten Morgen in der Welt der Bioenergetischen Analyse, als Garry Cockburn dem ganzen Auditorium mitteilte, dass wir Lowen mit seiner Äußerung »Wenn ich sterbe, tötet mich nicht!« nicht folgen könnten. Garry erklärte uns, dass wir ihm gerade zuwiderhandeln müssten, um unseren eigenen Weg in der Bioenergetik zu finden, genau wie es Lowen mit seinem psychotherapeutischen Vater Wilhelm Reich getan hatte, um seine eigene Identität zu finden (Cockburn, 2008). Es folgte Scott Baums Vortrag über die schwierige Beziehung zum Vater und den Prozess, aus dessen Schatten zu treten (Baum, 2008). Als nächste war Fina Pla aus Spanien auf dem Podium und hielt einen Vortrag über ein feministisches Herangehen an die Bioenergetik, wobei sie Lowens Aussagen über Frauen widersprach. Im Anschluss daran präsentierte Paul Sussman aus den USA die Ergebnisse einer Studie zur Situation schwuler Männer.

Diese stellte fest, dass eine akzeptierende Reaktion der Familie auf das Coming-out ihrer schwulen Familienangehörigen wichtig für die psychische Gesundheit dieser schwulen Männer war. Eine rein tolerierende Reaktion reichte hierfür nicht aus.

Endlich fühlte ich mich auch als schwuler Mann in der Welt der Bioenergetik zu Hause. Mit der Zeit lernte ich bei den Internationalen Kongressen des IIBA immer mehr schwule, lesbische und bisexuelle Bioenergetikkolleg*innen aus aller Welt kennen. Die Süddeutsche Gesellschaft für Bioenergetische Analyse nahm sogar einen Workshop zur Bioenergetischen Arbeit mit lesbischen, schwulen und bisexuellen Klient*innen in das Curriculum der künftigen Ausbildungen auf.

Gut so – oder?

Beim Internationalen Kongress des IIBA in Porto de Galinhas, Brasilien, 2015 sprach ich mit einigen schwulen Kollegen über die weltweite Entwicklung in der Bioenergetik hinsichtlich des LSBTIQ*-Themas und wie die Bioenergetische Analyse dem Rechnung trägt. Sie antworteten, dass sie noch immer unterschwellige Vorurteile gegen nicht-heterosexuelles Leben empfinden, und dass Lowens einstige Worte noch immer Bestandteil einiger Ausbildungen wären. Diese Mitteilungen überraschten mich sehr, und ich fragte mich, wie man das wohl ändern könnte.

Der hilfreichste Ansatz schien mir die Forschung zu Einstellungen, die als solche ziemlich konstant sind. Es ist nicht genug, zu einem strittigen Thema neue Informationen zu präsentieren. Noch wichtiger ist es, einen Perspektivwechsel vorzunehmen wie auch neue Vorgehensweisen zu trainieren, um Einstellungen von Grund auf zu verändern (Heinrich & Kohn, 2006). Folgende Frage stellte sich mir daraufhin: Wie könnte ein Trainer für Bioenergetische Analyse eine positive Haltung gegenüber LSBTIQ* in Ausbildungsgruppen entwickeln, wenn es während der letzten zehn Jahre keine Publikationen zum Thema gab und es zuvor auch nur marginal erwähnt wurde?

Als ich las, dass eins der Schwerpunktthemen des Internationalen IIBA-Kongresses 2017 in Toronto Sexualität und Gemeinschaft sein würde, nahm ich die Gelegenheit wahr und meldete einen Workshop an mit dem Thema »Lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intersexuelle und queere* Menschen – einige Herausforderungen für Theorie und Praxis bioenergetischer Therapeut*innen«.

Dieser Artikel folgt den drei Voraussetzungen, die zur Veränderung von Einstellungen erfüllt sein müssen:

In manchen Teilen mag der Artikel schwer zu lesen sein; er könnte wie ein Wörterbuch oder Glossar wirken. Doch wenn man in der Welt des Menschen einen neuen Kontinent betritt, braucht man normalerweise Offenheit für eine neue Kultur und die Bereitschaft, eine neue Sprache zu lernen.

Experiment

Kleins Grid der sexuellen Orientierungen (1985, 1993)

Das Grid (= Raster) wurde 1985 von Fritz Klein et al. als Weiterentwicklung der Kinsey-Skala ausgearbeitet. Es kann zu einer ersten Reflexion über nicht-heterosexuelle Aspekte der eigenen Persönlichkeit herangezogen werden. Die folgenden Fragen könnten dabei eine Hilfe sein: Wie war es, die Fragen zu beantworten oder auch nur zu lesen? Habe ich eine emotionale Reaktion bei mir gespürt, als ich begriff, um welche Art Auskunft ich gebeten wurde? Habe ich mich geschämt oder ertappt gefühlt? Gab es eine andere Emotion, die meinen momentanen körperlichen Zustand veränderte? Tauchten Erinnerungen in mir auf und wenn ja, was habe ich mit ihnen gemacht? Habe ich die Fragen wahrheitsgemäß beantwortet und wenn nicht, was habe ich versucht zu verbergen?

Definitionen – Was bedeutet »LSBTIQ*«? Oder »Die 4 Dimensionen des Geschlechts«?

Zahlreiche Begriffe kreisen um das Thema Geschlecht, und viele Leute denken, sie wüssten, worum es dabei geht. Doch manchmal wird deutlich, dass sie nicht alles wissen. Der Kommentar des Mannheimer Bürgermeisters Dr. Peter Kurz4 »LSBTIQ? Das ist zu kompliziert! Ich begrüße Sie mit ›Hallo, alle zusammen!‹« war nicht hilfreich. Das Nivellieren der Unterschiede zwischen all diesen Gruppen deutet auf mangelndes Interesse hin, sich auf die besondere Situation all der unterschiedlichen Gruppen von Menschen und ihrer besonderen Lebensformen einzulassen. Gelegentlich wird der Terminus »Nicht-Heterosexuelle« in der affirmativen Forschung über LSBTIQ* verwendet, um das all diesen Gruppen gemeinsame Leiden zu verdeutlichen, das ihnen mit der Abwertung durch ein und dieselbe heterozentrierte Gesellschaft und Kultur zugefügt wird. Ein Mann, der Frauen begehrt oder eine Frau, die Männer begehrt, ist die unbestrittene Basis eines sexuellen und liebenden menschlichen Wesens (Göth & Kohn, 2014). Doch der Terminus »Nicht-Heterosexuelle« ist ungeeignet für Trans*-Menschen, die nach einer chirurgischen in einer heterosexuellen Beziehung leben. Trans*-Menschen leiden indes an einer Welt, in der eine Cis5-Identität die allgemein anerkannte Basis für ein sexuelles und liebendes menschliches Wesen ist. Daher möchte ich hier den Begriff »nicht-cis-heteronormativ« verwenden, um alle LSBTIQ* in einem neuen Terminus zusammenzufassen – wohl wissend, dass auch dieser nicht perfekt ist und sogar zu Missverständnissen führen könnte.

Demgegenüber versucht das Trainingsteam von PLUS, die verschiedenartigen Kategorien der Geschlechter in eine verständliche Ordnung zu bringen, indem es die folgenden vier Dimensionen des Geschlechts verwendet, wenn es darum geht, Schüler*innen oder Lehrer*innen, Psychotherapeut*innen oder Sozialarbeiter*innen zum Thema der lsbtiq*-Menschen zu schulen (Göth & Kohn, 2014):

Biologisches Geschlecht Geschlechtsidentität
Geschlechterrolle Sexuelle Orientierung

Dimension »Biologisches Geschlecht« oder »Was bedeutet Intersex?«

In dieser Dimension betrachten wir den Körper oder analysieren ihn auf (mikro-)biologischer Ebene. Es ist die Frage nach den physischen Aspekten, warum man als männlich oder weiblich eingeordnet wird: primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale, geschlechtsspezifische Chromosomen, Gonaden, Hormone. Zur Vereinfachung: Schauen Sie in den Spiegel und prüfen Sie, wen Sie dort sehen: Sehen Sie einen Mann oder eine Frau? Abweichend von der Cis-Hetero-Norm sind in dieser Dimension intersexuelle, atypische Geschlechtsmerkmale.

Manche Menschen sind anhand ihrer geschlechtsspezifischen Chromosomen zwar eindeutig zuzuordnen, sind aber wegen einiger Besonderheiten ihres Körper irritiert, wie beispielsweise ein Mann, der seine Brüste als zu groß empfindet, oder eine Frau mit einer sehr traditionell femininen Figur, bei der ein paar Haare zwischen ihren weiblichen Brüsten wachsen. Viele Menschen mit der medizinischen Diagnose »Störung der geschlechtlichen Entwicklung« fühlen sich durch diese Bezeichnung abgewertet. Seit 2006 verwenden sie den Terminus »Unterschiede in der geschlechtlichen Entwicklung« und nennen sich »Inter*« oder »Intersex« (Günther, 2016). Inter*-Menschen, die unmittelbar nach der Geburt dem dabei biologisch zugeschriebenen Geschlecht chirurgisch angepasst wurden, leiden häufig unter medizinischen und psychischen Problemen infolge dieses Versuchs, das Kind so früh wie möglich in das binäre Mann-Frau-Schema einzugliedern. Manchmal beginnen diese Probleme nach langer Latenzperiode in der Pubertät, wenn Geschlechtsentwicklung sowie sexuelle Aktivität und Orientierung eine neue Bedeutung erreichen.

Geschlechtliche Diversität

Westliche Kulturen basieren auf einer Dichotomie der Geschlechter. Vor der Geburt eines Babys ist die häufigste Frage der Schwangeren beim Ultraschall: »Ist mein Baby gesund?«; die zweite lautet: »Ist es ein Junge oder ein Mädchen?« Die Textilindustrie gibt von den allerersten Tagen im Leben an die Farbe blau für Jungen vor und rosa für Mädchen.

Im Gegensatz zu dieser Ordnung gibt es in Indien und Pakistan ein drittes Geschlecht, genannt »Hijra«, als eine amtliche Kategorie, die der indischen kulturellen Überlieferung Rechnung trägt, dass es mehr als nur männliche und weibliche Identitäten gibt. Australien, Neuseeland und Nepal versuchen mit dem jüngsten gesellschaftlichen Wandel zurechtzukommen, indem sie ihren Bürgern gestatten, außer der weiblichen und männlichen eine dritte Kategorie zu wählen. In Deutschland ist dies bisher nur für Intersexuelle vorgesehen. Könnte die westliche Dichotomie der Geschlechter überwunden werden, wäre Intersexualität nicht länger ein Fehler der Natur, sondern ein Zeichen ihrer Vielfalt. Unter den fast sieben Billionen menschlicher Wesen gäbe es dann ungefähr genauso viele Geschlechter.

Dimension »Geschlechtsidentität« und »Trans*«

In dieser Dimension wird Sexualität von ihrer psychologischen Seite betrachtet bzw. auf der Ebene der Geschlechtsidentität. Damit ist die Bewusstheit und Sicherheit gemeint sowie das Bekenntnis, sich einem bestimmten Geschlecht zugehörig zu fühlen. Hier könnte die wahrscheinlich allzu simplifizierende Aufforderung lauten: Schließ die Augen, fühle und nimm wahr, welches Dein Geschlecht sein könnte: weiblich oder männlich? Viele Menschen, die ihr Geschlecht genauso spüren wie sie es im Spiegel sehen können, werden »cisgender« oder kurz »cis« genannt.

Menschen, die einen Unterschied zwischen dem biologischen Geschlecht spüren, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, und dem von ihnen empfundenen psychologischen Geschlecht, beschreiben sich selbst mit einem breiten Spektrum an Bezeichnungen. Für einige ist die Kluft zwischen dem bei Geburt zugeschriebenen und dem erlebten Geschlecht so groß, dass sie eine Geschlechtsangleichung mittels Hormontherapie beginnen, oder – sofern sie noch vor oder im Stadium der Pubertät sind – sich hormonblockierende Medikamente verschreiben lassen. Als weiteren Schritt unterziehen sie sich einer geschlechtsangleichenden Operation. Diese Menschen verwenden häufiger den älteren Terminus »transsexuell« als Selbstbeschreibung. Andere, die sich nicht so gut durch den »sexuellen« Ausdruck beschrieben fühlen, jedoch die Kluft als einen zentralen Bestandteil ihrer Persönlichkeit erleben, benutzen Begriffe wie »transident« oder »transgender«, »Trans*frau« oder »Trans*mann«. Wiederum andere sehen keine Lösung darin, auf eine der beiden Kategorien – männlich oder weiblich – festgelegt zu werden und bezeichnen sich als »nicht-binär«. Ein Terminus, in dem sich die meisten der oben genannten Personen in geeigneter Weise zusammengefasst fühlen könnten, ist »Trans*« (Günther, 2016).

Dimension »Geschlechtsrollen-Identität«

Diese Dimension wird auch soziales Geschlecht genannt und umfasst alle Verhaltensweisen und Erfahrungen, Persönlichkeitsattribute und -funktionen, die sozio-kulturell typischerweise einem Geschlecht zugeschrieben werden. Die vereinfachte Frage würde hier lauten: Welchen Eindruck von Deinem Geschlecht versuchst du bei anderen zu erwecken? Oder: Was wird in deiner Gesellschaft als männlich oder weiblich betrachtet?

In dieser Dimension ist beispielsweise eine Person zu finden, die gerne gegengeschlechtliche Kleidung trägt. Von der Hetero-Norm abweichend sind Termini wie »geschlechtsrollen-unangepasst« oder »atypisch«, »androgyn«, »metrosexuell«. Aspekte einer Geschlechtsrolle können im Verhalten oder als Persönlichkeitsattribute erkennbar werden. Traditionelle Definitionen von Männern und Frauen können subsumiert werden unter »nicht dem anderen Geschlecht anzugehören«, »Sex mit dem anderen Geschlecht haben«, »Kinder zeugen« oder »Kinder zur Welt bringen« bzw. »eine Familie ernähren« oder »Kinder großziehen« (Heinrich & Reipen, 2003). In der modernen Psychologieforschung findet man Maskulinität korreliert mit »Instrumentalität« (Aufgaben- und Lösungsorientiertheit: aktiv, konkurrierend, entscheidungsfreudig); Weiblichkeit ist korreliert mit »Expressivität« (kontaktfreudig, freundlich, warmherzig). Entsprechend dieser Forschung kann man vier Typen unterscheiden: »feminin«, »maskulin«, »androgyn« (feminin und maskulin zugleich; 51,9% Männer; 48,1% Frauen), die mit höherer psychischer Gesundheit korrelieren, und viertens, »indifferent« (weniger feminin und maskulin; 76,6% Männer; 23,4% Frauen) (Altstötter-Gleich, 2000).

Dimension »Sexuelle Orientierung« versus »sexuelle Identität« und ein-»Star«-Sein: Queer*

Diese Dimension ist die einzige, bei der es nicht um die eigene Sexualität oder Geschlechtszugehörigkeit geht, sondern um die des Sexualpartners; daher nennt man sie auch »Sexpartner-Orientierung«. »Sexuelle Orientierung meint die Ausrichtung der sexuellen und emotionalen Bedürfnisse eines Menschen auf andere Menschen des gleichen oder des anderen Geschlechts oder auf beide Geschlechter. Dabei werden wird die gegengeschlechtliche Orientierung als heterosexuell, die gleichgeschlechtliche als homosexuell und die auf beide Geschlechter bezogene Orientierung als bisexuell bezeichnet« (Göth & Kohn, 2014, S.6). Göth und Kohn unterscheiden zwischen sexuellem Verhalten, Begehren, Fantasien, Orientierung und Identität:

»Sexuelle Identität bezeichnet die Identität, die ein Mensch ausgehend von seiner sexuellen Orientierung entwickelt. Diese Entwicklung wird von der individuellen gesellschaftlichen und kulturellen Situation, in der er sich befindet und lebt, und intersektional durch weitere Aspekte seiner Identität beeinflusst« (Göth & Kohn, 2014, S. 6). Diese Definition mag verständlich machen, warum eine Person, die in einer heterosexuellen Ehe lebt, Kinder hat und sich als heterosexuell versteht und identifiziert, sexuellen Kontakt mit einer Person desselben Geschlechts haben kann. Während sexuelles Verhalten in allen heutigen Gesellschaften verbreitet ist, findet man die sexuelle Identität als lesbische Frau oder als schwuler Mann nur in den sogenannten westlichen Kulturen.

Die von den Personen selbst gewählten Bezeichnungen ihrer sexuellen Identität weisen ein sehr breites Spektrum auf, das von homosexuell, schwul, lesbisch, Frauen liebend, bisexuell, aufgeschlossen bis queer reicht. Manche Menschen fühlen sich unzutreffend beschrieben, wenn ihnen überhaupt eine sexuelle Identität zugeschrieben wird. Andere von der Hetero-Norm abweichende Termini sind »homo- und bisexuell«, »asexuell«, »pansexuell« und »queer«. Die Begriffe homo-, hetero- und bisexuell sind immer noch der Dichotomie der Geschlechter in männlich und weiblich verhaftet. Sie sind überdies ein Versuch, die Vielfalt des Lebens mit dieser Kategorisierung zu simplifizieren.

Da es für jede Geschlechtsdimension so viele Termini gibt, die Menschen zu ihrer Namensgebung verwenden, hat es sich eingebürgert, jeweils einen Stern ans Ende von trans*, inter*, queer* und der ganzen Buchstabenliste LSBTIQ* zu setzen, um jeden willkommen zu heißen und aufzunehmen, der oder die sich in einer dieser Richtungen beheimatet fühlt, jedoch einen anderen Terminus für sich benutzt.

Statistik

Da es große Unterschiede zwischen der sexuellen Orientierung und der sexuellen Identität gibt wie auch zwischen sexuellem Verhalten und der Selbstbezeichnung, unterscheidet sich auch die zahlenmäßige Verteilung der Menschen, die homosexuell leben, in Untersuchungen. Umfangreiche Zufallsstichproben wie die des National Intimate Partner and Sexual Violence Survey (Walters et al., 2013) zeigten, dass aus einer Stichprobe von n = 9086 Frauen sich 1,3% als lesbisch bezeichneten und 2,2% als bisexuell. 2% von n = 7421 Männern bezeichnete sich als schwul, 1,2% als bisexuell. Mercer et al. (2013) gab an, dass 8% der interviewten Männer sexuellen Kontakt zu einem anderen Mann hatten; 11,5% der Frauen hatten sexuellen Kontakt zu einer anderen Frau. Der Anteil der Frauen im Alter zwischen 16 und 34 Jahren stieg auf 18,5%.

Fluidität

Ergebnisse jüngerer Forschung zeigen überdies, dass sich die Selbstbezeichnung bzgl. der sexuellen Identität im Laufe der Zeit beträchtlich verändert. Diamond (2008) fand heraus, dass mehr als zwei Drittel der in einer Langzeitstudie interviewten Frauen die Selbstbeschreibung ihrer sexuellen Identität mindestens ein Mal innerhalb von 20 Jahren änderten – in beide Richtungen.

Sexuelle Präferenz

Ein dem Begriff »sexuelle Orientierung« ähnlicher und dennoch davon verschiedener Terminus ist »sexuelle Präferenz«, der sich auf den Entwicklungsstand des Sexualpartners – vom Kind bis zum älteren Menschen – bezieht. In vielen Ländern beruhen die Gesetze gegen Nicht-Heterosexuelle auf pädosexuellem Verhalten. Doch die Forschung weist auf den Unterschied zwischen diesen beiden Termini hin: Zitiert nach Göth und Kohn fand Beier et al. (2005) heraus, dass Pädophilie fast ausschließlich bei Männern auftritt, von denen 1% mit diesem Begriff beschrieben werden kann. Göth und Kohn zitieren den Bundesgesundheitsbericht, dass im Jahre 2012 Mädchen um ein Vielfaches häufiger als Jungen Opfer pädosexueller Gewalt geworden sind. Diese Ergebnisse machen deutlich, dass sexuelle Orientierung keineswegs mit sexueller Präferenz verbunden ist, die – wenn sie mit Kindern ausgelebt wird – zu sexuellem Missbrauch führt.

Keine Kategorisierung! Differenzierung!

Die vier Dimensionen des Geschlechts dienen nicht der Festlegung menschlicher Wesen. So könnte eine Lesbe entdecken, dass er ein Trans*mann und hetero ist. Schwule könnten vielleicht mit Geschlechtsrollen spielen. Und es könnte eine Trans*-Person mit einem Inter-Aspekt geben, die homosexuell lebt (Günther, 2018).

Besondere Aspekte von LSBTIQ* Lebensformen

Als Schwuler beziehe ich meine Erfahrung und mein Wissen vor allen Dingen aus der Welt schwuler Männer. Manche der folgenden Konzepte entstammen somit einer eher homosexuellen Perspektive. Trotzdem finden meine Kolleg*innen bei PLUS und ich einige von ihnen auch hilfreich für die Arbeit mit Trans*- und Intersexuellen* Klient*innen.

Internalisierte Homo-, Bi- und Trans-Negativität

Da wir in einer cis-heterozentrierten Welt leben, kommen wir womöglich eher in Kontakt mit den Kategorien unseres sozialen Umfelds als mit unseren spezifischen eigenen Bedürfnissen oder unserem Sein. Ein Mädchen oder ein Junge zu sein wird schon sehr früh wichtig, und die Zugehörigkeit ist im Alter von vier Jahren einigermaßen geklärt. Doch schon vorher haben wir tausendmal gehört, wie unsere Familienmitglieder und Nachbarn über die Unterschiede zwischen männlich und weiblich gesprochen haben. Beim Einsetzen der Pubertät beginnen die Hormone zu wirken, und der Körper verändert sich. Sexuelle Erregung wird wichtiger als sie es bisher war. Bis zu dieser Zeit haben die Kinder aber schon viele Male von »Schwuler Sau« und »Arschficker« reden hören. Im Deutschen ist das Wort »schwul« in Schulen seit vielen Jahren das Schimpfwort Nummer eins, das für diese Kinder das genaue Gegenteil von »cool« bedeutet – für sie wiederum Ausdruck höchster Wertschätzung.

So haben wir alle eine Vorstellung davon, was einen Jungen oder ein Mädchen ausmacht, und welchen Wert es hat, homosexuell oder heterosexuell zu sein, bevor uns bewusst wird, dass diese Kategorien etwas mit unserem eigenen Leben zu tun haben. Solche Einstellungen werden häufig durch unsere sozialen Modelle von einer Generation zur nächsten vermittelt. Meist geschieht dies durch die Eltern oder Peers und zunehmend durch die Inhalte der sozialen und der Massenmedien. Zumindest zu Beginn unseres Lebens erleben wir das Wesen dieser Einstellungen noch nicht persönlich. Somit gründen sie sich nicht auf Erfahrung, sondern bestehen eher aus Vorurteilen.

Als grundlegende Kategorien für unser Verständnis vom Mensch-Sein sind diese Einstellungen allerdings von zentraler Bedeutung. So geben sie uns Orientierung bei der Beurteilung des Werts einer Person: Frauen werden selbst in unserer westlichen Kultur noch immer als weniger wert angesehen als Männer, was sich in der Diskriminierung der Frauen durch einen geringeren Verdienst für die gleiche Arbeit zeigt. Letztendlich sind diese cis-heteronormativen Konzepte von Sex, Geschlecht und sexueller Orientierung mehr oder minder von allen Mitgliedern einer Gesellschaft internalisiert. Ist eine Person jedoch Teil der nicht-cis-heterosexuellen Gesellschaft, bilden diese Konzepte nicht nur den Rahmen für den eigenen Blick auf die Außenwelt, sondern haften auch der eigenen Person an. Diese internalisierte Homo-, Bi- oder Trans-Negativität erschwert einem LSBTIQ* den Weg zu Selbstwert und Selbstsicherheit. Mehr noch, diese Einstellungen verhindern einen unterstützenden Kontakt zu anderen Menschen, welche dieselbe nicht-cis-heteronormative Lebensform teilen und schränken dadurch die Möglichkeiten ein, mit Peers Erfahrungen auszutauschen und auf diesem Wege eigene Stärke zu erlangen.

Modell nicht-cis-heteronormativer Identitätsentwicklung

Vivian Cass (1979, 1996) lieferte in ihrem Modell homosexueller Identitätsentwicklung ein sehr hilfreiches Instrument für die Beratung und Therapie homosexueller Klienten. Meines Erachtens ist die Erweiterung dieses Modells auf alle nicht-cis-heteronormativen Identitäten und deren Bildung nützlich. Gemäß Cass’ Modell beginnt die Entwicklung einer LSBTIQ*-Identität mit einer Vorstufe, auf der sich die Person als Teil der cis-heterozentrierten Gesellschaft erlebt, sozusagen wie eine heterosexuelle Cis-Person. Ein weiterer wichtiger Aspekt ihres Modells ist die Unterteilung des Prozesses der Identitätsentwicklung in sechs Stufen, auf denen die Person sich mit Aussagen konfrontiert sieht, die ihre Identität betreffen, zum Beispiel auf der ersten Stufe »Identitätskonfusion« mit der Feststellung »Man könnte einen Teil meines Verhalten als homosexuell oder bisexuell verstehen oder eine Wahrnehmung meines Körpers oder Erlebens als trans*, Inter* oder queer.«. Zu diesen Aussagen muss sich die Person beziehen: Sie muss sie entweder für sich bejahen, verneinen oder sie kann den Prozess auf einer Stufe beenden. Stufen können schnell durchschritten werden, doch es ist ebenfalls möglich, eine längere Zeit auf einer Stufe zu verweilen oder eben dort stehen zu bleiben. Ein dritter wichtiger Aspekt ist, dass Cass keiner der Entscheidungen den Vorrang gibt.

Die verschiedenen Stufen können zusammengefasst werden als solche, die den inneren Prozess eines Coming-outs beschreiben mit der Selbst-Akzeptanz der eigenen Geschlechts- bzw. sexuellen Identität, und jene eines äußeren Coming-out-Prozesses, in dem eine Person Kontakt aufnimmt zu anderen Menschen mit derselben und anderen Dimensionen von Sex. Schließlich hilft Cass’ Modell eine Sprache zu finden, in der ein*e Therapeut*in mit Klient*innen reden kann, die sich auf einer bestimmten Entwicklungsstufe befinden. Des Weiteren erklärt es, warum Partner*innen in einer schwulen oder lesbischen Beziehung oder einer Beziehung mit zwei intersexuellen oder Trans*Personen vielleicht besondere Probleme zu lösen haben, wenn die Partner*innen sich auf unterschiedlichen Stufen ihrer Geschlechts- oder sexuellen Identitätsentwicklung befinden.

Coming-out

Worin sich die Erfahrungen von LSBTIQ* im Vergleich zu Cis-Heterosexuellen am meisten unterscheiden, ist die Tatsache, dass sie sich an einem bestimmten Punkt ihres Lebens fragen müssen, ob sie von anderen im biologischen Geschlecht, ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung mit all ihren Implikationen abweichen, wie bei Vivian Cass beschrieben (1979).

Das ist jedoch nicht nur ein innerer oder kognitiver Prozess, sondern immer auch eine ganzheitliche Erfahrung mit sich selbst und im Kontakt mit dem sozialen Umfeld. Biechele fand heraus, dass der 1999 in Deutschland am meisten verbreitete Gemütszustand bei jungen Schwulen Liebeskummer war (54% der Befragten) sowie Einsamkeit (47%) neben einigen eher Schwule betreffenden Themen wie beispielsweise: Sorge um AIDS (39%) und »Wie kann ich andere Schwule kennen lernen?« (37%). Daher ist Einsamkeit nicht nur in der Phase vor dem Coming-out ein beherrschendes Gefühl, sondern ein durchgängiges Thema zumindest während der Zeit, in der die schwulen jungen Männer ihren Platz in der Gemeinschaft suchen. 1999 fanden Forscher in Berlin, dass schwule und lesbische Teenager vier Mal mehr suizidgefährdet sind als ihre heterosexuellen Peers (Berlin, 1999). Mehr als 25% schwuler Männer erleben, dass ihre Väter sie ablehnen, sobald sie erfahren, dass ihre Söhne sich schwul nennen. (Biechele, 2009)

Sich verlieben und zum ersten Mal Sex haben geschieht bei Lesben, Schwulen und Heterosexuellen beinahe im selben Alter: zwischen 16,6 und 17,1 Jahren (Biechele, 2009 und Berlin, 1999). Dennoch gibt es fundamentale Unterschiede zwischen diesen Gruppen. Die ersten Sexualpartner bei heterosexuellen Paaren haben nur eine Altersdifferenz von 1,3 Jahren. Demgegenüber ist der erste Sexualpartner eines Schwulen durchschnittlich sechs Jahre älter als er selbst. Bei 14% der Schwulen ist er zehn oder sogar noch mehr Jahre älter. Das bedeutet, dass das »erste Mal« des Schwulen nicht in einer Begegnung mit einem Gleichaltrigen stattfindet, in der beide denselben oder einen ähnlichen Erfahrungshintergrund haben (Biechele, 2009). Auf der anderen Seite sind die ersten Sexpartner von Lesben in 66% der Fälle Männer, was bedeutet, dass ihre erste sexuelle Begegnung eine heterosexuelle ist (Berlin, 1999).

Im Prozess einer Geschlechtsangleichung in Deutschland sind Trans*-Menschen heute gezwungen, in ihrem Alltag offen zu leben (Alltagstest) als notwendige Bedingung dafür, um die Hormontherapie und die operative Geschlechtsangleichung von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert zu bekommen. Das erzeugt großen Druck und behindert eine selbstgewählte Entwicklung (Günther, 2016).

Erfahrungen mit Diskriminierung

Alle LSBTIQ* haben Diskriminierung oder sogar Gewalt erfahren aus dem einzigen Grund, weil sie LSBTIQ* sind. 100% der Teilnehmer an einer Studie des PLUS e.V. von 2006 berichteten, dass sie mindestens einmal im Leben verbale Diskriminierung wegen ihrer sexuellen Orientierung erlebt haben (Haas & Göth, 2006). Dieses Ergebnis erlaubt die Annahme, dass Trans*- und inter*sexuelle Menschen in gleicher Weise betroffen sind. Natürlich sind die Art und Weise sowie die Situationen, in denen es zu Diskriminierung und Gewalt kommt, bei den diversen Gruppen der LSBTIQ* sehr unterschiedlich: Trans*- und Inter*Personen werden oft misgendered (=optisch mühelos als von der heterosexuellen Norm abweichend wahrgenommen). Schwule und Lesben fallen in der Öffentlichkeit eher als Paar oder in Gesellschaft von Freunden auf. Demgegenüber können Bisexuelle unsichtbar bleiben und müssen vermutlich anderen ihre sexuelle Orientierung mitteilen, um sich als bisexuell zu erkennen zu geben.

In einigen Ländern steht auf Homosexualität die Todesstrafe, wie zum Beispiel in Saudi-Arabien oder im Iran. Andererseits gehört Iran zu den Ländern, in denen häufig chirurgische Geschlechtsangleichungen vorgenommen werden. Das ist allerdings kein Beweis für eine offene und vielfältige Gesellschaft, sondern vielmehr die Möglichkeit, Bürger dem binären System von männlich/weiblich anzupassen, was wiederum das patriarchalische System des Landes unterstützt.

Lebt man in der westlichen Hemisphäre, so hat es den Anschein, als hätten sich die Gesetze für LSBTIQ* während der letzten Jahrzehnte im Sinne einer liberaleren Haltung verbessert. Diese Annahme bestätigte sich wieder im Juli 2017, als das deutsche Parlament für die Gleichheit heterosexueller und homosexueller Eheschließungen stimmte. Doch wie die Entwicklungen in Russland, der Türkei und den USA in den vergangenen Jahren gezeigt haben, gehen sie nicht nur in eine Richtung; sie erreichten im August 2017 einen Tiefpunkt bei der Entscheidung von Präsident Trump, keine Trans*-Personen in der Armee zu dulden. Überdies spielt sich das Leben von LSBTIQ* gewissermaßen immer auf dem Präsentierteller ab und es muss davon ausgegangen werden, dass gesellschaftliche Veränderungen schnell zu einer Verschlechterungen ihrer allgemeinen Lebenslage führen (roll back). Folglich gibt es einen großen Bedarf an politischem Engagement und psychotherapeutischer Unterstützung, um die Freiheiten zu bewahren, die für den Erhalt der Vielfalt so wesentlich sind.

Selbst in Ländern, in denen es keine Verfolgung sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität gibt, leiden LSBTIQ* sehr unter Diskriminierung und Gewalt. Zwei Drittel der Teilnehmer an der erwähnten PLUS-Studie erfuhren psychologische Gewalt. Physische Gewalt trifft Schwule und Lesben beinahe in gleicher Häufigkeit (immerhin noch 2%), jedoch in unterschiedlicher Weise: Physische Gewalt gegen Schwule hatte selten sexuellen Charakter und wurde eher von Fremden in der Öffentlichkeit ausgeübt. Lesben erfuhren vorwiegend sexuelle physische Gewalt durch Verwandte oder (Ex-)Ehemänner entsprechend ihrem Coming-out-Prozess (Haas & Göth, 2006).

Günther (2016) weist darauf hin, dass Menschen wie Trans* und Inter* ohne eine ausgeprägte männliche oder weibliche Erscheinung mit ziemlicher Sicherheit Opfer von Diskriminierung und Gewalt werden. Sie betont, dass frühzeitige chirurgische Eingriffe, die Inter*Menschen an das bei ihrer Geburt vermutete Geschlecht anpassen sollen, als Gewalt zu betrachten sind und mit sexueller Gewalt und erzwungener genitaler Verstümmelung verglichen werden können.

Minderheiten-Stress-Modell

Vor dem Beginn einer affirmativen Forschung über nicht-cis-heterosexuelle Lebensformen fand die Forschung über LSBTIQ* in Kliniken und in psychotherapeutischen Praxen statt. In diesen Forschungsergebnissen wurden LSBTIQ* per se für krank befunden. Doch selbst nach dem Beginn der affirmativen Forschung fand man noch signifikante Unterschiede in den Untersuchungen zu bestimmten psychischen Erkrankungen zwischen hetero- und nicht-heterosexuellen Klienten. Ian Meyers (1995, 2003) erstellte eine Meta-Studie über viele jener Untersuchungen und erhielt signifikante Ergebnisse beim Vergleich zwischen Heterosexuellen und Lesben oder Heterosexuellen und Schwulen oder Heterosexuellen und bisexuellen Frauen oder Männern hinsichtlich verschiedener psychischer Erkrankungen in mehreren Studien. Die schwerer erkrankte Gruppe war immer eine mit nicht-heterosexuellen Klient*innen. Doch er konnte keine Wiederholung der signifikanten Resultate zu einer besonderen Erkrankung in verschiedenen Studien feststellen. Ian Meyer schloss daraus, dass diese Befunde Teil eines Minderheiten-Stresses sein könnten, der ein zusätzlicher Stress ist für Menschen, die nicht zur Mehrheit gehören. Minderheiten-Stress umfasst die weitaus größere Anstrengung, mit anderen Mitgliedern derselben Minderheit Kontakt aufzunehmen und zugleich die tägliche Abwertung durch Diskriminierung auszuhalten.

Es wurde ebenfalls deutlich, dass eine nicht-heterosexuelle Identität per se nicht ausreicht, um in einer einzelnen Studie einen Unterschied hervorzurufen. Ist jedoch eine Person vulnerabel aufgrund der Lebenssituation oder individueller Disposition, kann der Minderheiten-Stress der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Meyers Konzept stützt sich auf die Population der LSB*, doch seine Erklärung lässt den Schluss zu, dass sich die Umstände des Minderheiten-Stresses auch auf die TIQ* übertragen lassen.

Intersektionale Aspekte

Mit der Forschung der letzten Jahre konnte ein weiterer Aspekt herausgearbeitet werden. Kimberlé Williams Crenshaw konnte belegen, dass 1980 die bei General Motors am stärksten von Kündigung betroffenen Angestellten weder afro-amerikanische Männer noch weiße amerikanische Frauen waren, sondern afro-amerikanische Frauen (Crenshaw, 1989). Die von einer doppelten oder multiplen Diskriminierung Betroffenen – farbige Frauen oder Lesben (= Frauen und homosexuell) oder transsexuelle Schwule (= transsexuell und homosexuell) – leiden stärker an Problemen ihrer psychischen Verfassung als diejenigen, die nur unter einer Art Diskriminierung leiden.

Gestaltung von Beziehungen

Wenn wir in den vorausgehenden Abschnitten anerkennen, dass es besondere Aspekte in einem LSBTIQ* Leben gibt, und dass die Aspekte zwischen den verschiedenen Gruppen nicht-cis-heteronormativer Personen ebenfalls differieren, könnte man annehmen, dass es für LSBTIQ* besondere Probleme gibt (zusätzlich zu den üblichen Schwierigkeiten in einer heterosexuellen cis-Beziehung), eine Beziehung einzugehen. Dieser Überhang an Problemen, dazu das Fehlen von Kindern als einem stabilisierenden triangulierenden Faktor, erschwert es LSBTIQ*s, in einer stabilen Beziehung zu leben. Trotzdem kann Michel Bochow nachweisen, dass während der letzten 30 Jahre, seit 1987, etwa 50% der Schwulen in Beziehungen leben, die in der Mehrzahl länger als 10 Jahre dauern (Bochow, 1989, Bochow, Schmidt & Grote, 2010).

Das Beratungsteam von PLUS konnte feststellen, dass schwule und lesbische Paare mit sehr unterschiedlichen Problemen zu kämpfen haben. Ulli Biechele und ich bemerkten, dass unsere schwulen Paare oft erst in einem sehr späten Stadium der Beziehungskrise in die Paarberatung kommen, wenn es beinahe unmöglich ist, eine konstruktive Lösung zu finden. Ein anderes Lösungskonzept, das uns begegnete, war, dass nur ein Partner die Probleme des Paares in einer Einzelberatung zu lösen versucht, weil der andere Partner nicht bereit ist sich zu beteiligen. Unsere lesbischen Kolleginnen Margret Göth und Andrea Lang verzichten manchmal auf eine Paarberatung oder beenden sie vorzeitig, wenn sie feststellen, dass die Probleme eines lesbischen Paares nicht paarspezifisch sind, sondern dass sie sich einem Problemkomplex gegenübersehen, den jede Partnerin separat in einer Einzeltherapie bearbeiten müsste.

Abgesehen von der eher geschlechtsspezifischen Dynamik haben schwule oder lesbische Paare mit Themen zu tun, die man nicht bei heterosexuellen Paaren antrifft: Unterschiede beim Coming-out, oder unterschiedliche Erfahrungen mit anti-homosexueller Gewalt bis hin zu Hassverbrechen (s. Abschnitt 3.e).

Darüber hinaus gibt es einige Probleme, die auch bei cis-heterosexuellen Paaren auftreten könnten, dort jedoch weniger verbreitet sind, zum Beispiel diskordanter HIV-Status insbesondere bei schwulen Paaren. Zweitens begegnet man auch kulturellen Unterschieden. Dabei ist die Dynamik des Paares, die auf der gegenseitigen Anziehung durch Exotik beruht, nicht der einzig wichtige Aspekt, sondern es geht auch um unterschiedliche Erfahrungen mit Diskriminierung, das heißt durch Gesetze gegen die eigenen LSBTIQ*-Lebensformen in den verschiedenen Heimatländern und gegen die ausländische Partner*in im Land der anderen. Drittens gibt es Unterschiede im sozialen und ökonomischen Status. Durch das Coming-out erlebt die einzelne Person einen Verlust der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und bestenfalls einen Wechsel des sozialen Netzwerks. Dadurch und durch den Minderheitenstatus entsteht ein größeres Bedürfnis, sich bei der Wahl einer Partner*in auch für solche zu öffnen, die sich auf einem anderen sozialen Niveau bewegen oder einen anderen sozialen und wirtschaftlichen Status bei LSBTIQ* innehaben. Viertens sind auch mehr Fernbeziehungen zu verzeichnen. Da das Reisen ein wichtiger Faktor für Personen aus LSBTIQ* Minderheiten darstellt, um mehr Begegnungen mit möglichen Partner*innen zu schaffen, besteht bei diesen Partnerschaften eine höhere Wahrscheinlichkeit für Fernbeziehungen. Fünftens gibt es neben dem Konzept der sexuellen Treue auch das der offenen Beziehung. Da die traditionellen Beziehungsmuster von sexueller Treue zwischen Mann und Frau nicht direkt auf Lesben und Schwule übertragbar sind, besteht bei schwulen und lesbischen Paaren eher die Möglichkeit, eine zu ihnen passende Beziehungsform auszuhandeln. Bochows (1989; Bochow, Schmidt & Grote, 2010) Umfragen ergaben, dass etwa 50% der schwulen Teilnehmer ihre Beziehungen als offen definieren und die anderen 50% als monogam. Auch heterosexuelle Paare äußern sich immer mehr in dieser Weise, definieren sich jedoch noch immer sehr viel häufiger als monogam. Sechstens treten Probleme auf, wenn es um die Zeugung eines Kindes durch genitalen Sex geht. In den letzten 20 Jahren ist der Wunsch von Lesben und Schwulen, Mutter bzw. Vater zu werden, ständig gewachsen. Einige Schwule und Lesben hatten bereits Kinder aus einer früheren heterosexuellen Verbindung (schwule Väter und lesbische Mütter). Andere wählen eine Person des anderen Geschlechts, mit der sie ein Kind planen und zur Welt bringen können in eine sogenannte »Regenbogenfamilie«. Für die Kinder müssen unterschiedliche Verantwortlichkeiten zwischen den biologischen Eltern und den sozialen Co-Müttern und -Vätern ausgehandelt werden. Auf dem Weg zu einer Trans*Identitätsbildung gibt es ein Stadium, in dem die Person in Erwägung ziehen muss, vor der Hormontherapie oder der operativen Geschlechtsangleichung Eizellen oder Spermaproben einzufrieren, um die Möglichkeit zu erhalten, zu einem späteren Zeitpunkt biologische Kinder zu haben.

Beratung und Therapie mit Verwandten von LSBTIQ*

Wie wir in Abschnitt 2.d.1. sehen konnten, ist der Anteil der LSB* an der Bevölkerung ziemlich klein, und so verhält es sich auch bei den TIQ*. Zählt man alle großen Stichprobenumfragen zusammen, ist die Summe der LSBTIQ* zwischen 8% und 25% der Bevölkerung – jeweils abhängig von der Struktur der Fragebögen (sexuelle Orientierung versus sexuelle Identität, transsexuell versus transgender, etc.). Doch wegen der Wechselwirkung des Coming-outs eines LSBTIQ*-Menschen einerseits auf seine Familie und andererseits zurück auf die LSBTIQ*-Person in Form von Diskriminierung und sogar Gewalt entwickeln die Verwandten oft ein starkes Bedürfnis nach Beratung und manchmal sogar nach Therapie (Günther, 2016).

Perspektivübernahme eines LSBTIQ*: Gedankenwolken

Ralph Kohns »Gedankenwolken« sind ein Beispiel für eine Methode, die Teilnehmenden eines Workshops die Perspektive eines lst* Kindes einnehmen zu lassen. Sie wurde in den Workshops von PLUS über lsbtiq* Lebensformen weiterentwickelt und wird aktuell in folgender Weise angewendet:

Zuerst werden die Workshop-Teilnehmer gebeten, Ausdrücke niederzuschreiben, die sie früher zur Beschreibung von Schwulen, Lesben und Trans*-Menschen gehört hatten, und zwar jeden Ausdruck auf eine einzelne Karte. Die Ausdrücke für Schwule werden auf eine rosa Karte geschrieben, die für Lesben auf eine blaue, und die für Trans* auf eine weiße Karte. Während einer kurzen Pause sortieren die Trainer die Karten und heften sie – nach Farben geordnet – jeweils auf ein Flipchart-Papier um einen darauf gezeichneten Kopf herum. Dann informiert man die Teilnehmer, dass man ihnen drei Geschichten zu drei verschiedenen Kindern erzählen wird. Zuvor werden alle gebeten, eine bequeme Position einzunehmen und – sofern sie möchten – die Augen zu schließen. Im Folgenden können sie jedes Kind begleiten und ein Bild entstehen lassen oder ein Gefühl dafür entwickeln, wie das Kind wohl empfinden mag und was es als nächstes tun wird. Eine*r aus dem Trainingsteam erzählt eine kurze Geschichte über einen elfjährigen Jungen, der seine erste nächtliche Pollution hatte und sich seltsam erregt fühlt, als er seinen Klassenkameraden trifft. Er fragt sich: »Kann es sein, dass ich schwul bin? – Aber ein Schwuler ist …« Und daraufhin wird jede Karte laut vorgelesen. Wenn auf manchen Karten der gleiche Ausdruck steht, wird dieser so oft gelesen, wie er aufgeschrieben wurde, was seine Wirkung noch verstärkt. Am Schluss der Geschichte fragt man die Teilnehmer: »Wie fühlt sich dieser Junge? Was wird er als nächstes tun?« In der folgenden Diskussion fasst man die empathischen Antworten der Teilnehmer zusammen. Danach wird die zweite Geschichte erzählt und diskutiert; darin fragt sich ein elfjähriges Mädchen, ob sie wohl lesbisch sein könnte. Schließlich wird die dritte Geschichte erzählt über ein achtjähriges Kind, das sich mit seinem Geschlecht unwohl fühlt, das ihm bei der Geburt zugeschrieben wurde. Am Ende werden alle drei Erfahrungen von den Teilnehmern verglichen und diskutiert.

Entwicklung von Handlungsoptionen: Überlegungen zu einer affirmativen bioenergetischen Therapie mit LSBTIQ*

Wenn man sich der Unterschiede in den sozialen, emotionalen und körperbezogenen Lebensumständen zwischen cis Heterosexuellen und LSBTIQ* bewusst ist wie auch derer zwischen den lsbtiq* Untergruppen, mag deutlich werden, dass eine bioenergetische Therapeut*in bei der Arbeit mit lsbtiq* Klient*innen andere Probleme vor sich hat als in der Arbeit mit Heterosexuellen. Fasst man die oben aufgelisteten Unterschiede zusammen, so sollte eine bioenergetische Therapeut*in damit rechnen, dass ihre lsbtiq* Klient*in bereits mit Verwirrung, Einsamkeit, Minderheitenerfahrungen, Entwertung, Diskriminierung, Gewalt und Hass zu tun hatte mit allen denkbaren Folgen auf emotionaler Ebene wie zum Beispiel Depression, Angst, Selbsthass, PTBS und sogar schweren Persönlichkeitsstörungen. Wie können sich bioenergetische Therapeut*innen darauf vorbereiten, mit solchen in so spezifischer Weise traumatisierten Klienten zu arbeiten?

Wie das Trainingsprojekt POWER UP von PLUS in seiner Evaluation ermitteln konnte (Lang, Reipen & Heinrich, 2007), half ein Set erprobter Übungen zur Entwicklung neuer Handlungsoptionen, die Einstellungen gegenüber LSBTIQ* zu verändern. Dementsprechend wäre für die Arbeit mit lsbtiq* Klient*innen eine klare Orientierung wichtig, wie mit der großen Menge Information einerseits und dem neu entdeckten empathischen Blick auf diese Gruppen andererseits umzugehen ist.

Günther (2016) weist darauf hin, wie bedeutsam es ist zu bedenken, dass tatsächliche körperliche Potenziale bei Inter*-Personen unsichtbar gemacht oder zerstört worden sind. Daher sollten sich die Themen dieser Klient*innen zunächst wohl mehr am Verlust von Körperlichkeit als an der Zukunft ausrichten. Trans*-Personen leiden oft unter einer gegen sie gerichteten spezifisch körperbezogenen Feindseligkeit, die Günther »Bodyismus« nennt, weil der Körper nicht der cis-Körpernorm entspricht. Diese Feindseligkeit ist häufig mit Sexismus kombiniert. Vielleicht helfen diese kurzen Darstellungen dabei einzuschätzen, auf welcher Ebene Körperarbeit mit lsbtiq* Klient*innen notwendig wäre.

Stein und Burg (1996) erstellten eine Liste »Bildungsziele für ein schwules affirmatives Training«. Margaret Göth und ich (Heinrich & Reipen, 2001) entwickelten weitere Betrachtungen für die Ausbildung von Psychotherapeut*innen für schwule, lesbische und bisexuelle Klient*innen. Mari Günther (2016) erstellte Richtlinien für Berater von Trans*- und Inter*-Klient*innen. Auf der Grundlage dieser Listen entwarf ich einen sehr kurzen Leitfaden für die Arbeit bioenergetischer Therapeut*innen mit lsbtiq*-Klient*innen:

Diese Liste mag daran zweifeln lassen, ob jemand eine gute Bioenergetische Therapeut*in für LSBTIQ* werden kann, wenn sie durch ihre eigene sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität, durch Verwandte oder Freunde keinen Zugang zu deren Welt hat. Andererseits ist nicht jede lsbtiq* Bioenergetische Analytiker*in per se eine gute Therapeut*in für lsbtiq* Klient*innen. Es verlangt Freude und Neugier, diese Welt der Vielfalt zu betreten und die eigenen Reaktionen in diesem Kosmos zu reflektieren. Steht keine Information über die Welt der LSBTIQ* und ihre Gemeinschaften zur Verfügung, so können wahrscheinlich Supervisoren, Kollegen oder eine Internetrecherche bei der Suche behilflich sein. Lsbtiq* Klient*innen um Auskunft zu bitten, käme einem Missbrauch der Klient*innen gleich. Letztendlich haben lsbtiq* Klient*innen das Recht auf die Möglichkeit, eine gute Bioenergetische Therapeut*in für sich zu wählen, die ihnen und ihrer Stufe der Identitätsbildung gerecht werden kann – manche brauchen lsbtiq* Therapeut*innen, andere benötigen Cis-hetero Therapeut*innen.

PLUS Bioenergetik-Workshops

Um einen Blick in die Praxis zu gewähren und die Umsetzung der Empfehlungen zu erläutern, möchte ich mit einer kurzen Darstellung meiner Arbeit mit LSBTIQ* während der letzten Jahre schließen. In den vergangenen 16 Jahren hat PLUS eine Folge halbjährlicher Bioenergetik-Workshops für schwule und bisexuelle Männer angeboten. Diese Workshops beginnen freitagabends und enden sonntags am frühen Nachmittag. Sie beinhalten klassische Bioenergetikübungen und die Arbeit in Dyaden sowie mit Körperkontakt in der ganzen Gruppe. Nach jeder körperorientierten Übungssequenz gibt es eine Runde des Erfahrungsaustauschs, in der die Teilnehmer auch kommentieren, wie das Feedback eines anderen Mannes sie berührt. Während der letzten paar Jahre war jeweils ein Workshop klientenzentriert; der andere hatte ein Thema wie beispielsweise »Körpersprache und Selbstausdruck« oder »Die Unberührbaren«, sodass eine bestimmte Thematik nahe an der Lebenswirklichkeit eines schwulen Mannes im Fokus stand.

Im Workshop Mai 2017 befragte ich die acht Teilnehmer, welchen Gewinn ihnen diese Workshops brachten. Jeder dieser schwulen oder bisexuellen Männer hatte zwischen zwei- und zehnmal an den Bioenergetik-Workshops teilgenommen. Das meistgebrauchte Wort als Antwort lautete »selbstverständlich«. Dieser Ausdruck war verknüpft mit »nicht-sexuellem Körperkontakt mit anderen Männern« und einem »nicht-konformistischen Kontakt mit anderen Schwulen«. Die letzte Äußerung wird auch als Gegensatz zum Umgang der Schwulen untereinander in der Schwulenszene gesehen, die häufig als kalt, oberflächlich und kategorisierend beschrieben wird. Die Teilnehmer berichten, dass sie über die bioenergetische Arbeit in der Gruppe mit ihren Bedürfnissen als Schwule in Kontakt kamen. Sie entdeckten Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes schwules Leben zu führen unabhängig von ihren eigenen Maßstäben, wie man als schwuler oder bisexueller Mann zu leben habe. Diese Vorgaben entstammten sowohl der heterozentrierten Welt als auch der gay community, in der sie lebten.

In der Einzelberatung mit Schwulen und Lesben bei PLUS sind die Hauptthemen psychische Gesundheit, Coming-out, Kontakt zu anderen Schwulen und Lesben – einzeln und auch zur Szene, Schwierigkeiten mit oder auch in der Partnerschaft, Gewalt und internalisierte Homonegativität. Die Arbeit mit internalisierter Homonegativität (ebenso mit Trans*- und Inter*Negativität) erfordert Kenntnisse über das erste Mal, als die lsbtiq* Klient*innen Informationen über ihre eigene spezifische lsbtiq* Untergruppe erhielten. Diese Information kam oft von den Eltern, aus den Medien oder der Schule (wie bereits erwähnt, ist »schwul« das gängigste Schimpfwort an deutschen Schulen). Die lsbtiq* Klient*innen waren in jener Zeit ihres Lebens häufig Opfer von Gewalt und Mobbing, Abwertung und Hass, weil sie nicht Teil der heterosexuellen Cis-Mehrheit waren. Diese Traumatisierung kann zur eigenen Stabilisierung die Introjektion des Täters zur Folge haben. Die Arbeit mit diesem Ich-Zustand erfordert ein gutes emotionales Grounding und viel empathischen Beistand seitens der bioenergetischen Therapeut*in.

In meiner bioenergetischen Praxis arbeite ich häufig mit Körperkontakt, um Schwule in ihre Kraft und Stärke zu bringen. Das geschieht leichter in einem Workshop, weil die Klienten sehen können, dass es nicht nur ihre ganz persönliche Erfahrung ist, Schwierigkeiten zu haben, in die eigene Kraft zu kommen, sondern eine, die von fast allen geteilt wird.

Während der vergangenen sieben Jahre zeichnete sich bei PLUS eine besondere Entwicklung ab. Immer mehr Trans*-Menschen wenden sich an die Beratungsstelle. 2016 waren es so zahlreiche Trans*-Teenager, dass wir beschlossen, eine Jugendgruppe für Trans*-Teenager im Alter von 13 bis 22 Jahren einzurichten. Das Geschäftsführungs-Team von PLUS übertrug mir als hauptsächlich cis Schwulem die Aufgabe, anfangs im Leitungsteam zu arbeiten, um dem Leitungsteam und der Gruppe die Kultur von PLUS zu vermitteln. Auf der Suche nach Co-Leiter*innen fand ich sehr bald eine Trans*-frau und einen Trans*-mann. Beim ersten Treffen Januar 2017 nahmen fünf Teenager teil. Zu Beginn kam jede Woche eine neue interessierte Person über die Beratung im Zentrum zur Gruppe dazu. So waren in dieser Zeit durchschnittlich bei den Treffen fünf Teenager anwesend; einige kommen sehr regelmäßig, andere umkreisen eher die Gruppe. Ich konnte mit dieser Gruppe keine bioenergetische Körperarbeit beginnen und bin nach fast zwei Jahren aus der Leitung ausgestiegen, als diese von Trans*-menschen stabil besetzt werden konnte. Doch es ist deutlich wahrnehmbar, wie die Teenager auf physiologischer Ebene und in ihrem Verhalten aufblühen, wenn man ihnen den Rahmen gibt, in ihrer sexuellen Vielfalt akzeptiert zu sein, so wie sie sind; und wenn sie endlich andere finden, bei denen sie sich heimisch und verstanden fühlen können.

Übersetzung: Irma Diekmann

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Der Autor

Thomas Heinrich, Dipl.-Psych., Certified Advanced Rolfer™, CBT seit 2001, Mitglied der Süddeutschen Gesellschaft für Bioenergetische Analyse (SGfBA) und Fakultätsmitglied des IIBA, hat sich in den letzten Jahren auf die anatomischen Grundlagen der Bioenergetischen Analyse konzentriert insbesondere in der Arbeit mit traumatisierten Klienten und solchen mit nicht-heterosexueller Orientierung sowie Transgender. Private Praxis in Mannheim, Süddeutschland. Gründer von PLUS und dortiger Berater. Psychologische Lesben- und Schwulenberatung Rhein-Neckar, Mannheim.

info@praxis-thomas-heinrich.de

Anmerkungen

[1]
Mein Dank geht an meine Kolleg*innen von PLUS, besonders an Margret Göth und Ulli Biechele, mit denen ich das Beratungszentrum in Mannheim aufgebaut und über 17 Jahre lang geleitet habe, und an Angelika Wenzel, die diesen Artikel in verständliches Englisch gesetzt hat und an Irma Diekmann, die mir schließlich geholfen hat, den Artikel im Deutschen zu verfassen.
[2]
lsbtiq* ist die allgemein akzeptierte Abkürzung für lesbisch, schwul, bisexuell, trans, inter, queer und andere.
[3]
VLSP ist die Abkürzung für Verband für lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intersexuelle und queere Menschen in der Psychologie
[4]
Beim Beteiligungsworkshop zum Aktionsplan »Für Akzeptanz und gleiche Rechte Baden-Württemberg«, einer Tagung des Ministeriums für Soziales des Landes Baden-Württemberg vom 8. Februar 2014.
[5]
Cis-Identität: die Geschlechtsidentität entspricht dem Geschlecht, das der Person bei der Geburt zugeschrieben wurde.