Scham: Der Wunsch gesehen zu werden und das Bedürfnis sich zu verstecken1

Helen Resneck-Sannes

Bioenergetic Analysis • The Clinical Journal of the IIBA, 2019 (29) DE, 41–60

https://doi.org/10.30820/0743-4804-2019-29-DE-41 CC BY-NC-ND 4.0 www.bioenergetic-analysis.com

Zusammenfassung

Die Unterscheidung der Scham von Schuld und Verlegenheit geschieht durch die Erläuterung biologischer und energetischer Komponenten der Scham. Scham ist eine Reaktion auf eine innerhalb einer Beziehung erlittene Verletzung. Ihr Ursprung in der frühkindlichen Entwicklung wird untersucht, insbesondere ihr Zusammenhang mit Narzissmus. Es folgen Ausführungen zu Geschlechterunterschieden bei Scham und in Reaktionen auf Beschämung. Die Heilung sexuellen Missbrauchs wird thematisiert, wobei der Fokus auf der Scham liegt als dem Haupthindernis in der Arbeit mit sexuellem Missbrauch. Zum Schluss ist die Dynamik bei Außenseitern der Gesellschaft und deren Empfänglichkeit für Scham Gegenstand der Diskussion.

Stichworte: Scham, Narzissmus, Geschlecht, sexueller Missbrauch, Außenseiter

Einleitung

Vor etwa 40 Jahren wurde mir erstmals das Gefühl von Scham bewusst. Meine Therapeutin betrachtete es allerdings nicht als echtes Gefühl. Sie beschrieb es vielmehr als Instrument, das Eltern zu Lasten ihrer Kinder einsetzen. Weder in Theorie noch in Therapie schenkte man ihm viel Aufmerksamkeit. Der Fokus lag auf Gefühlen wie Angst, Wut und Sehnsucht, wobei Scham als eine diese Gefühle begleitende Emotion betrachtet wurde. Für mich ist es bewegend, dass ich neulich gebeten wurde, eine Eröffnungsrede auf einem Kongress zu halten, der sich ausschließlich mit dem Thema Scham befasst.

Definition von Scham

Scham und Schuld unterscheiden sich insofern, als Schuld das Gefühl beschreibt, etwas Falsches getan zu haben. Scham hingegen ist die Erfahrung, selbst schlecht, falsch oder abstoßend zu sein. Wird ein Kind in seinem Wesen beschämt und um seiner selbst willen wütend zurückgewiesen, gibt es keinen vorgezeichneten Weg zurück in die Beziehung, während Schuld durch Sühne und Wiedergutmachung getilgt werden kann. Beim Erleben von Scham gibt es kein Entrinnen; was immer man auch tun mag, es wird die Auswirkungen nicht mindern. Es ist geschehen; man ist vor seinem Gegenüber entblößt und kann den Teil seiner selbst nicht verbergen, der so unannehmbar ist.

Scham und Schuld können zugleich in ein und derselben Situation auftreten. Wenn jemand einen Fehler gemacht, das Fehlverhalten gebüßt hat und sich dennoch schlecht fühlt, dann ist er oder sie im Schamgefühl gefangen. Scham kann nicht durch Wiedergutmachung verschwinden, weil nicht das Verhalten, sondern das Selbst fehlerhaft ist. Die unbewusste irrationale Bedrohung, die sich hinter der Schamangst verbirgt, ist das Verlassenwerden. So wurden beispielsweise Adam und Eva für ihre Nacktheit beschämt und aus dem Garten Eden vertrieben. In gleicher Weise wurde auch Ödipus aus seiner Heimat verbannt. Die Angst hinter der Scham besteht darin, dass unsere Eltern, Lehrer, unser Lebensgefährte, wer immer uns wichtig ist, sich angewidert von uns abwenden könnte.

Die Biologie der Scham

Scham ist eine angeborene biologische Reaktion, die von Geburt an vorhanden ist. Die meisten Theoretiker (Darwin, 1872, 1979; Nathanson, 1986) stimmen darin überein, dass Verlegenheit und Scham zu Veränderungen im Kreislaufsystem führen. Insbesondere wird angenommen, dass Scham die peripheren Blutgefäße weiten kann, möglicherweise durch die Ausschüttung einer spezifischen hormonellen Substanz. Anders als Besorgnis, Wut, Angst, Aufregung etc., die sich unmittelbar in der Gesichtsmuskulatur ausdrücken und auch rasch wieder verschwinden, hat Scham die Tendenz, eine recht lange Zeit zu verweilen, bevor sich die Person wieder erholt. Scham geht einher mit einer »kurzen Zündschnur und einer langen Brenndauer« (Nathanson, 1986, S. 26).

In der ersten Reaktion auf das Ertappt-Sein, der Verlegenheit, errötet der Mensch, das Blut schießt in die Peripherie und die Herzfrequenz steigt. Sowie die Wirkung intensiver wird und in Scham übergeht, in das Gewahrsein, dass unser Selbst schlecht ist, versuchen wir uns zu verstecken, unsere Energie nach innen zu ziehen – der Kopf senkt sich, die Augen sind niedergeschlagen, die Schultern nach vorn gezogen und der Oberkörper sinkt zusammen. Die Wirkung gleicht einer Schockreaktion: die Vagusaktivierung führt zu Blutdruckabfall und Verlangsamung des Herzschlags. Bei Verlegenheit empfinden wir Hitze, Gesichtsröte; vielleicht kichern wir, fühlen uns albern, fast übermütig (Resneck & Kaplan, 1972). Bei Scham ist der Mensch deprimiert. Obwohl der Peripherie Blut zur Verfügung steht, ist das innerste Gefühl eins von Kälte und Einsamkeit; das Selbst wird abgelehnt und fühlt sich schlecht.

Verlegenheit und Scham sind biologisch gesteuerte Reaktionen, die nach Zurückhaltung verlangen. Ein Tier ist beim Fressen, Koten oder bei der Fortpflanzung in einer äußerst verletzlichen Lage. Beim Menschen sind diese Aktivitäten von sozialen Tabus überfrachtet, von Sittlichkeit und dem Gebot der Intimität. Das Sich-Verbergen ist die Vorbereitung auf eine mögliche Gefahr, und Scham ist eng damit verbunden. Ein beschämter Mensch ist in sich selbst zurückgezogen, muss sich einem Aspekt stellen, den er verborgen halten möchte, vor dem er sich jedoch nicht verstecken kann. Damit sind wir genau bei der Geschichte von Adam und Eva. Bei ihrer Vertreibung aus dem Paradies wurde ihnen ihre Missetat bewusst, und in ihrer Scham bedeckten sie sich.

Schneider (1977, S.30) argumentiert, dass Darwin und Ellis es in ihrer Behandlung der Scham versäumen, zusätzlich zu den Reaktionsmustern Angst/Flucht und Wut/Angriff eine dritte grundlegende Reaktion auf Gefahr anzuerkennen: das Sich-Verstecken/die Bewegungslosigkeit. »Die Erscheinungsformen der Scham – den Blick abwenden, das Gesicht bedecken, erröten, den Kopf senken und »im Boden versinken« wollen – unterscheiden sich deutlich von Angstreaktionen«. Rolof (2017) führt an, dass eine solche Reaktion auf Gefahr durchaus sinnvoll ist. Da die meisten Tiere bewegungslose Objekte nicht ohne weiteres erkennen, obgleich sie sie aufspüren wollen, gewährt das Erstarren Tieren einen echten Schutz. Es ist bekannt, dass bestimmte Tiere, das heißt Vögel, Eidechsen, Opossums, bewegungslos werden, »sich totstellen«, wenn man sie fängt. In der Tat scheinen sie biologisch in einem Schockzustand; ihre Herzfrequenz verlangsamt sich, die Augen blinzeln nicht mehr. Doch dann, sobald die Gefahr vorüber ist, »erwachen« sie und flitzen davon.

Das Problem ist, dass wir uns in einem Schockzustand befinden, wenn wir beschämt sind; alles Blut wird ins Körperinnere gezogen und wir können nicht mehr denken. Ich persönlich gerate in einen Schockzustand, wenn Menschen mich verhöhnen. Ich kann dann überhaupt nicht reagieren und bin erst Stunden später meiner Gefühle sicher. Mit dieser oft unangenehmen Zeit befasst man sich nicht gern, weil das Ereignis ja vorüber ist, und es wieder anzusprechen würde nur die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt meiner selbst lenken, vor dem ich mich verstecken möchte. Ich habe keinerlei Bedürfnis, meine Verletzlichkeit zu offenbaren, indem ich das Thema überhaupt noch einmal anspreche.

Scham und die Augen

»Kuckuck, ich seh’ dich«, sagt die Mutter genau in dem Moment, wenn sich der Körper ihres Babys beim Anblick ihres wieder auftauchenden Gesichts entspannt. Die flötende Stimme der Mutter und der muntere Blick in ihren Augen sagen dem Baby: »Was für ein schönes Baby du bist! Wie wundervoll du bist! Wie glücklich bin ich, dich zu sehen!« Das Baby erwidert den Blick und schaut in die Augen seiner Mutter. Dort sieht es gespiegelt all die eindrucksvollen und wunderbaren Dinge, die es sich vorstellt selbst zu sein. Ein Baby lernt sich dadurch kennen, was sich in den Gesichtern derer spiegelt,die es anschauen. Die spiegelnde Bewunderung ist eine Liebkosung, die zu einer lustvollen Besetzung des kindlichen Körpers führt (Kaplan, 1978, S.144).

Scham wird über die Augen wahrgenommen und gefühlt. Beim Erkennen seiner Verfehlungen verließ Ödipus Heimat und Familie und stach sich die Augen aus. Eine der ersten Bindungen des Babys zu seinen Eltern entsteht über die Augen. Viele Studien erforschten die Wirkung des Mutter-Kind-Augenkontaktes auf die spätere emotionale und intellektuelle Entwicklung des Kindes (Stern, 1977, 1985). Robson (1967) legt nahe, dass der gegenseitige Blick als Auslöser für Bindung fungiert. Wechselseitiger Blickkontakt scheint ein Bedürfnis des Kindes zu sein genau wie das Saugen und das körperliche Gehaltenwerden, und er scheint eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine gute Mutter-Kind-Bindung zu sein.

So kann Scham bereits in frühem Alter über die Augen kommuniziert und wahrgenommen werden. Demos (1986) rezensierte Tronicks Experimente zum »reglosen Gesicht«, in denen Interaktionen zwischen Müttern und ihren zweieinhalb bis drei Monate alten Kindern gefilmt und dann in Zeitlupe abgespielt werden. In der ersten Phase des Experiments wird der Mutter aufgetragen sich normal zu verhalten, während sie und das Kind einander gegenübersitzen. Die Zeitlupe zeigt das verzückte Interesse, mit dem sie einander anschauen. Als nächstes wird die Mutter gebeten, den Raum für einige Augenblicke zu verlassen und sich bei ihrer Rückkehr dem Kind gegenüberzusetzen, jedoch jegliches Mienenspiel zu unterlassen.

Eine kurze Zeit wird das Kind eine ganze Reihe von Gesichtsausdrücken zeigen in dem offenkundigen Versuch, die Mutter für ihrer beider normalen Interaktionsmodus zu gewinnen. Nach einer Weile wird man bei dem Kind eine von zwei charakteristischen Verhaltensweisen beobachten: einige Kinder werden verzweifelt weinen, viele jedoch werden in einem plötzlichen Verlust der Körperspannung im Stuhl zusammensacken, den gesenkten Kopf zur Seite drehen und den Blick vom Gesicht ihrer Mutter abwenden. Demos spürte, dass diese Kinder eine primitive Schamreaktion zeigten.

Allzu oft übersehen wir eben diese Schamreaktion bei unseren Klienten und missdeuten das Wahrgenommene zum Beispiel mit den Worten »Sie sind zusammengesunken, stehen Sie auf und schlagen Sie auf die Kissen!« oder wir wenden uns ab, weil wir dasselbe Gefühl in uns nicht spüren wollen. Eine der Übungen, die ich mit meinen Klienten mache, besteht darin, Energie durch die Augen zu senden und zu empfangen. Einige Klienten fürchten sich davor, mich anzuschauen und verbergen ihr Gesicht. Ich bitte sie dann, einen kurzen Blick zu wagen, wegzuschauen und wieder kurz hinzuschauen, wenn sie sich wohlfühlen. Was sie verunsichert, ist die Wärme und Fürsorge, die sie in meinen Augen sehen. Das passt nicht zu ihrer Selbstwahrnehmung, zu dem, was sie zu sehen erwarten. Oft erinnern sie sich an den Blick, den sie in den Augen ihrer Eltern sahen – diesen Blick, der ihnen sagte, dass sie den Elternteil enttäuscht hatten, dass sie den Erwartungen nicht genügten, dass sie schlecht waren.

In dem Film Die Maske spielt Cher die Rolle der Mutter eines Jungen, dessen Gesicht durch eine Krankheit entstellt ist. Trotz seiner äußeren Erscheinung hat der Junge die Gewissheit, dass er schön ist. Immer wenn Cher ihn anschaut, sind ihre Augen voller Liebe. Doch er wird zum Teenager, und die Beziehung seiner Peergroup zu ihm gründet sich auf seine äußere Erscheinung. Allmählich hört er auf, sich als schön oder okay zu sehen, als ein wertvolles menschliches Wesen.

Teenager sind empfänglich für Schamgefühle wegen ihres Wunsches, von der Peergroup anerkannt zu werden. Sie müssen Verbindungen außerhalb der Familie knüpfen, um ihren Entwicklungsprozess zu vollenden. Sie sind äußerst empfindlich für Ablehnung, doch wenn sie stattfindet, versuchen sie ihre Gefühle von Demütigung zu verbergen. Auch unsere Klienten versuchen eine Entwicklungsaufgabe zu vollenden. Sie werden ermutigt, ihren Schutz aufzugeben, zeitweilig zu regredieren und das ursprüngliche Trauma wieder zu erleben, das zu der Abwehrhaltung geführt hat. Sie schauen auf uns, auf die Reaktion von uns Therapeuten. Das ist eine heikle Phase, in der Missbilligung oder Kritik ihrer Gefühle sie bereuen lassen könnte, sich offenbart zu haben. Sie könnten innerlich feststellen: »Ich habe zu viel von meiner Verletzlichkeit preisgegeben, von meiner Sexualität, meiner Trauer, meiner Bedürftigkeit, meiner Wut und meiner Angst.« Wieder einmal sind sie verkehrt, »zu viel« und haben einen Fehler gemacht. Natürlich werden sie Ihnen dieses Erleben nicht mitteilen, weil sie nicht weiter gedemütigt werden wollen. Stattdessen werden sie verschleiern, vorgeben, dass alles in Ordnung ist, doch die Erregung ist vorbei, die Bewegung zum Stillstand gekommen.

Als Therapeuten müssen wir im Umgang mit Schamreaktionen sehr erfahren sein, um sie nicht als orales Zusammensinken zu deuten. Scham ist ein solch tiefgehendes Erleben, dass viele Manöver zu ihrer Verschleierung unternommen werden, ohne dass wir ihrer überhaupt bewusst würden. In der von mir praktizierten Körpertherapie Bioenergetik wird der Klient ermutigt, seine Abwehrmechanismen aufzugeben, im eigentlichen Sinne etwas zu tun, das seinem besseren Wissen zuwiderläuft. Als Therapeuten müssen wir sensibel für die Schamreaktion sein, denn dieses Gefühl ist so geartet, dass es wohl nicht bereitwillig mitgeteilt wird. Die Person möchte sich lieber verstecken und versuchen das Gefühl zu überdecken, um einer weiteren Enthüllung ihrer Unzulänglichkeit zu entgehen.

Scham und Narzissmus

Scham ist in ihrer Beziehung zum Selbst, insbesondere zum Selbstbild, von zentraler Bedeutung. Narzissmus ist eine positive Erfahrung des Selbst, ein Zustand der Selbstliebe und -bewunderung. Scham hingegen ist ein negatives Erleben des Selbst; es ist dessen vorübergehende »Zerstörung« in akuter Selbst-Verunglimpfung. In der analytischen Theorie wie auch in der Volksweisheit wird Narzissmus als Abwehr gegen den Selbsthass in der Scham verstanden.

Auch ein gesundes Selbstwertgefühl fühlt sich nicht ständig gut und erstrebenswert an, sondern beinhaltet vielmehr die Fähigkeit, mit Gefühlen der Unzulänglichkeit, Schwäche, Unfähigkeit oder Schuld umzugehen. In bestimmten Entwicklungsphasen, vom Säuglingsalter bis etwa zum dritten Lebensjahr und dann wieder während der Teenagerjahre, ist das Kind besonders anfällig für narzisstische Entwicklungsstörungen. Wenn die Familie dem Kleinkind nicht zugestehen kann, so grandios zu sein wie es ihm oder ihr möglich ist, dann treten narzisstische Störungen auf. Scham ist die Reaktion des Selbst, das von einem Mangel an Spiegelung seiner Grandiosität überwältigt wird. Stellen Sie sich zum Beispiel das Krabbelkind vor, das entdeckt, dass es endlich die Schranktüren öffnen und auf Töpfe und Pfannen schlagen kann, während Mama das Abendessen zubereitet. Die müde, deprimierte Mutter reagiert mit Ärger auf den Triumph des Kindes, sodass sich die freudige Erregung des kleinen Knirpses in Enttäuschung und Rückzug verwandelt. Nehmen Sie an, dasselbe Kind beginnt noch am selben Tag zu laufen, und sein Vater reagiert mit Entzücken und umarmt es. So wird ein Teil der vorherigen Enttäuschung ausgeglichen, und die zuvor entstandene narzisstische Wunde kann heilen. Doch angenommen, derselbe Vater beachtet das Kleinkind nicht, wenn es nach seinen ersten paar Schritten fällt; dann hat das Kind einmal mehr Demütigung und Scham für sein kindliches Streben nach Kompetenz erfahren. Die Bühne ist bereitet für Probleme mit seinem Selbstbild. Sogar noch während der Adoleszenz kann ein Kind, das in angemessener Weise gespiegelt wurde, tiefe narzisstische Wunden erleiden, in deren Folge es verletzt, beschämt und in sich gekehrt bleibt. Wie zuvor schon bei dem Film Die Maske bemerkt, spürte auch jener Junge, der von seiner Mutter angemessen gespiegelt worden war, in der Adoleszenz die Zurückweisung durch seine Altersgenossen, wurde sich bewusst, dass er entstellt war und begann sich nicht mehr zu mögen. Solches mag auch für andere Wesensaspekte eines Menschen zutreffen, die von den Freunden seiner Kindheit akzeptiert und später in den Teenagerjahren abgelehnt worden waren. Denken Sie an den farbigen Jugendlichen, der ursprünglich von seinen weißen männlichen Peers akzeptiert wurde, jedoch gnadenlos ausgegrenzt wird, wenn er versucht mit einem weißen Mädchen auszugehen oder aber an das Kind, das sich für seine Religion, für den Akzent seiner Eltern oder deren Alkoholismus schämt.

Die Elemente, welche Scham oder narzisstische Verletzlichkeit begünstigen, treten vor allem in der Familie auf. Denken Sie an zwei Arten Scham erzeugender Familien. Angenommen, ein kleines Mädchen bekommt die Hauptrolle in ihrer Tanzvorführung. Es ist normal, dass die übrigen Familienmitglieder stolz auf sie sind. Wenn sie jedoch ihren Triumph zu lange feiert oder ihr Image zu dem einer professionellen Ballerina in einer Tanztruppe überhöht, wird ihre Familie betonen, dass viele Jahre Training und harte Arbeit vor ihr liegen, bevor sich der Traum möglicherweise verwirklichen lässt, und sie in ihre normalen narzisstischen Grenzen weisen. Wenn andererseits die Familie zu sehr auf den Erfolg des Kindes erpicht ist und ihm nicht hilft, ein realistisches

Selbstwertgefühl zu entwickeln, sondern es zu einer narzisstischen Erweiterung der Familie mit deren eigenen Träumen und Fantasien macht, dann ist das Kind für Gespött außerhalb der Familie prädisponiert. Die Familie hat die Grandiosität des Kindes nicht eingeschränkt, folglich wird die Peergroup versuchen, es auf »das richtige Maß zurechtzustutzen«, und sollte das nicht funktionieren, es eventuell zurückweisen und ausgrenzen. Zum Schutz entwickelt das Kind ein Fantasiekonstrukt seiner eigenen »Besonderheit« und vermeidet somit, sich in eine Welt außerhalb seiner eigenen narzisstischen Schöpfung zu integrieren. Stellen Sie sich andererseits eine Familie mit chronisch niedrigem Selbstwertgefühl vor, die regelmäßig im Wettbewerb gescheitert ist. Der tatsächliche Erfolg eines Familienmitglieds bringt die Scham der übrigen ans Licht. Um sich nicht minderwertiger zu fühlen, müssen sie hochwirksame Techniken der Beschämung einsetzen, um den Aufstieg des erfolgreichen Familienmitglieds zu verhindern.

Abwehr von Scham

Zudem ist häufiges und wiederholtes Erleben von Scham geeignet, am allgemeinen Selbstwertniveau zu kratzen. Neigung zu Scham und narzisstische Verletzlichkeit sind verwandte, jedoch unterschiedliche Begriffe. Alle schamanfälligen Personen sind narzisstisch verletzlich, doch der Umkehrschluss trifft nicht zu, weil viele narzisstisch verletzliche Menschen sich zur Abwehr hinter einer Fassade der Unverletzlichkeit verschanzen. Wird ein Kind wiederholt gedemütigt, herabgesetzt und beschämt, führen diese traumatischen Erfahrungen zu Formen des Selbstschutzes. Diesen Selbstschutz nannte Freud den »Schutzwall« des Narzissmus. Der spontane Selbstausdruck des Kindes war für einen Elternteil inakzeptabel, und so lernt das Kind, sein Verhalten einzuschränken. Auf diese Weise kann das wahre Selbst kontrolliert und verborgen werden, und nur der als akzeptabel erachtete Teil wird der Welt gezeigt. In dem Bemühen, schmerzliche Gefühle abzuwehren, tendieren beschämte Menschen dazu, Schuld und Ärger auf einen geeigneten Sündenbock zu projizieren. So können sie zwar ein gewisses Gefühl von Kontrolle und Überlegenheit in ihrem Leben zurückgewinnen, doch langfristig ist die Rechnung dafür oft gesalzen.

Wenn die Scham unerkannt bleibt, konzentriert sich der Mensch womöglich auf einen anderen Gefühlszustand, ein Akt emotionalen Ersatzes. Beispielsweise kann ein beschämter Mensch, der nicht bereit ist, das Schamgefühl anzuerkennen, über jemand anderes wütend werden und ihn zu einer Art Sündenbock für seine eigene Selbstbezichtigung machen. Wut ist leichter zu ertragen als Scham. Der Ersatz ist jedoch eine Form der Selbsttäuschung: sie lindert den Schmerz und das Unbehagen, ändert aber nicht unmittelbar das Gefühl. Dadurch dass wir uns nicht auf die Scham konzentrieren und uns stattdessen mit anderen Gefühlen befassen, verlieren wir die Möglichkeit, die Kräfte zu verstehen, welche in unserer Umwelt und in uns selbst wirken.

Ich halte das für ein wichtiges Konzept. Anfangs dachte man in der Bioenergetik, hinter der Scham sitze Wut, die befreit werden müsse – vermutlich, weil Scham ein Schockzustand ist, und wenn man aus der gefrorenen Starre herauskommt, setzt bekanntlich die Kampf-oder-Flucht-Reaktion ein. Womöglich verstecken wir uns lieber oder leugnen unsere Gefühle, indem wir »nett« sind, nur um nicht verlassen zu werden, um nicht eine Beziehung zu verlieren, von der wir für unser Wohlergehen abhängen. Das könnte als eine Art Fluchtreaktion verstanden werden. Oder aber wir könnten zu unserer Verteidigung eine wütende und aggressive Kampfreaktion zeigen. Wenn wir in Sicherheit sind, können wir hoffentlich beginnen, den Schmerz und die Verletzlichkeit hinter unserer Wut zu erkennen. Mit anderen Worten: vorausgesetzt es gibt genügend Unterstützung, Selbstwertgefühl und Mut, kann nach dem Schmelzen der gefrorenen Starre (Schock) das Wagnis unternommen werden, den Prozess gänzlich zu verstehen.

Scham und Kultur

Meine erste Veröffentlichung zum Thema Scham trug den Titel: »Men, Women and Shame«. Darin führte ich aus, wie sich unser Selbstverständnis dadurch definiert, was die Kultur als gutes und akzeptables Verhalten beurteilt, und dass wegen kultureller Unterschiede und der unterschiedlichen Erziehung der beiden Geschlechter Männer eher Scham empfinden, wenn sie sich Verletzlichkeit und Zärtlichkeit überlassen, während Frauen sich eher für ihre Sexualität schämen. Ich hatte nicht vor, dieses Thema noch einmal zu behandeln, da wir inzwischen anderthalb Generationen weiter sind und wir es, wie ich glaubte, gewiss überwunden hatten. Doch dann verkündete Donald Trump ohne jegliche Scham (Gott segne ihn für seine Angeberei!), er könne, nur weil er ein mächtiger weißer Mann ist, jede beliebige Frau sexuell anpöbeln. Und ich beobachtete zu meinem Entsetzen, wie er Hillary Clinton während der Debatten physisch belästigte, indem er sich bedrohlich über ihr aufbaute in einer Position, die Peter Levine uns warnend als die eines Raubtiers beschreibt.

Männer schämen sich für Verletzlichkeit und Bedürftigkeit und Frauen für ihre Sexualität, weil Mädchen und Jungen für unterschiedliches Verhalten beschämt oder gefördert werden. Männer in unserer Kultur empfinden tiefe Scham, wenn sie bedürftig, verletzlich und hilflos sind. Wut und Rückzug sind zwei der üblichsten Abwehrreaktionen beschämter Männer. Deborah Tannen studierte die Interaktionen kleiner Mädchen und Jungen seit deren Kleinkindzeit. Die Mädchen versuchten in Beziehung zu treten, wohingegen sich die kleinen Jungen schon im Alter von zwei bis drei Jahren rauften. Wenn ein Mann also wegen eines Verstoßes zur Rechenschaft gezogen wird, ist er offenkundig im Unrecht. Einen Fehler zuzugeben bedeutet, dass man unzulänglich ist…also lieber den Ankläger beschuldigen. Sie oder er sei zu fordernd, zu emotional, zu kritisch, zu verführerisch. Zu sagen: »Es tut mir leid« würde heißen unterlegen zu sein. Also lieber wütend werden, eine Frau abblocken, den Vorfall herunterspielen.

In einer Studie über die Wirkung von Berührung im Zusammenhang mit Patientenreaktionen bei Operationen fand man heraus, dass die Wirkung auf Frauen therapeutisch war, das heißt die Frauen, die berührt wurden, hatten niedrigeren Blutdruck und weniger Angst vor der Operation und mehr als eine Stunde danach als die Frauen, welche nicht berührt wurden. Männer jedoch fanden die Erfahrung verstörend; als Reaktion auf die Berührung stiegen ihr Blutdruck und ihr Angstniveau und blieben erhöht. Die Forscher begründeten die nach Geschlecht unterschiedlichen Befunde damit, dass »…Männer in den Vereinigten Staaten es oft schwieriger finden, Abhängigkeit und Furcht einzugestehen als es Frauen tun. Folglich kann eine gut gemeinte Berührung bei Männern eine bedrohliche Erinnerung an ihre Verletzlichkeit wecken.« Andererseits dürfen kleine Mädchen in unserer Kultur zu ihrer Mutter eine körperliche Beziehung aufrechterhalten, die Jungen aufgeben müssen (Moss, 1967). »In den Vereinigten Staaten […] bekommen Mädchen mehr liebevolle Berührungen (Küsse, Umarmungen, Halten) als Jungen« (Thayer, 1988, S. 32).

Daher richtet sich die Wut der Männer unter ihrer Scham insbesondere auf die Mutter, denn sie war die erste Liebe, diejenige, die ihn hielt und die ihn Weichheit und Wärme lehrte. Dann aber leugnet sie den Kontakt, erklärt ihm, dass große Jungen nicht weinen, nicht hochgehoben und getröstet werden müssen. Er fühlt sich gedemütigt, überwältigt von ihrer Macht. So sucht er einen Ausgleich, wertet ihre Liebe ab und imitiert stattdessen seinen Vater, den er als mächtigen Drahtzieher auf der Welt sieht, als Kontrolleur von Ideen und Geld. Der lehrt seinen Sohn, nicht zu weinen, keinen Schmerz zu äußern, nicht die Kontrolle über sich zu verlieren, sich nicht unterkriegen zu lassen, nicht aufzugeben, nicht weich zu werden. Der Vater unterrichtet ihn in aggressivem Verhalten, zeigt seinem Sohn, wie er die Macht der Mutter konterkarieren kann, indem er sie demütigt, lehrt ihn Abstand zu halten und sie zum Objekt zu degradieren. Noch immer weckt sie starke Gefühle in ihm – die Sehnsucht nach Liebe, Sexualität und Wärme. Er muss sie unterdrücken, vertraut nicht seinem eigenen Körper, nicht seinem Herzen. Daher projiziert er seine Sehnsüchte auf die Mutter, beschuldigt sie, ihm diese schändlichen Gefühle anzuerziehen. Er wendet sich gegen seine Körperempfindungen, denn sie rufen Erinnerungen an seine Kindheit und seine Verletzlichkeit hervor. Diese Körpergefühle sind weibisch, sie ist die Verletzliche. Ihre Verführung weckt diese Gefühle. Er fürchtet sich vor Empfindungen, vor intensivem Körpergefühl und demzufolge starken Emotionen. Er mag all das vermeiden, indem er sich eine Super-Macho-Fassade zulegt oder indem er rationalisiert, all seine Gefühle zu erklären sucht in der Illusion, einen Prozess erklären zu können bedeute, ihn auch kontrollieren zu können. Wie auch immer – verletzliche Gefühle müssen beherrscht werden, und das versucht er sowohl bei sich als auch bei anderen zu erreichen.

Diese beiden unterschiedlichen Abwehrmechanismen bringen wiederum zwei verschiedene Verhaltensweisen hervor, mit Emotionen umzugehen. Da ist der Fall des »Super-Machos«, der unfähig ist, seine Macht wirklich durchzusetzen; daher wird er impulsiv aggressiv und versucht andere zu kontrollieren, während er selbst außer Kontrolle ist. »Wut ist eine jener spontaneren, natürlich auftretenden Reaktionen, die man oft als Folge von Scham beobachtet« (Kaufman, 1985, S. 74). Um seine eigene Unzulänglichkeit zu verbergen, setzt er andere herab, wütet – um sich stark zu fühlen – gegen seine Frau und in Wirklichkeit gegen sein eigenes Bedürfnis nach Sanftheit und Nähe. Oder aber er wird logisch, rational in dem Versuch, andere zu kontrollieren und sich selbst über sie zu stellen.

Vor vielen Jahren hatte ich einen Klienten, einen 50-jährigen Mann mit narzisstischen Themen, dessen Handeln zeigt, wie gefangen er war zwischen der kulturellen Definition von Männlichkeit, seinem eigenen Bedürfnis und der Verachtung seiner selbst. Er kam mit dem Problem, er sei unfähig, eine dauerhafte, erfüllte Beziehung zu einer Frau einzugehen. Anstatt Frauen begegnen zu können und mit ihnen auszugehen, dröhnte er sich mit Kokain zu und lebte seine masochistischen Fantasien mit Prostituierten aus. Oft fühlte er sich zum Schluss den Prostituierten nahe und fürchtete dann, sie würden ihn ausnutzen und missbrauchen. Er wollte eine Therapie mit einer Frau beginnen, zu der er sich sexuell hingezogen fühlte, um seine Übertragungsgefühle bearbeiten zu können. Seine vorherige Therapeutin war mit seiner sexuellen Übertragung überfordert gewesen. Sie überwies ihn an eine Gruppe, und schließlich begann er eine Einzeltherapie bei dem Gruppenleiter. Sowohl der Therapeut als auch der Klient selbst spürte, dass seine Grundthematik mit Frauen nie gelöst worden war, und so wurde der Klient zur Einzeltherapie an mich überwiesen.

Als der Klient sechs Jahre alt war, trug ihm sein Vater auf, für seine Mutter und seine Schwester zu sorgen. Der Vater war die meiste Zeit des Tages außer Haus zur Arbeit und nicht sehr kontaktfreudig, wenn er daheim war. Vom sechsten bis zum neunten Lebensjahr hatte der Klient Albträume, er würde von Frankenstein angegriffen. Im Laufe der Therapie durchlebte er wieder die Angst vor seines Vaters Wut, welche zwar nie offen zum Ausdruck kam, die er jedoch spürte und in seinen Augen sah. Dann identifizierte er seinen Vater als das Monster, das ihm übel wollte. Er begann auch sich selbst als Frankensteinmonster zu sehen insofern, als er sich von den Bildern und Vorstellungen kontrolliert fühlte, die sich andere von ihm machten.

Im Verlauf seiner Bioenergetischen Analyse tauchte seine Sehnsucht nach seiner Mutter auf. Als er zu weinen begann, verspannte sich die gesamte Vorderseite seines Körpers. Wenn er auf die Matte schlug und trat, war er im Zwiespalt zwischen seinem Beharren, dass »sie mich wirklich liebte« und seinem Zweifel, dass jemand ein Kind so behandeln könnte – ihm seine Grundbedürfnisse versagen. Wenn er zu mir aufschaute und meine Zuneigung sah, war er tief beschämt und fühlte, dass er seine Männlichkeit, meinen Respekt und seine Sexualität verloren hatte. Er begann sich selbst abzuwerten und nannte sich dumm wegen seiner Bedürftigkeit und seiner Zuneigung. Manchmal, nachdem er seine Wut auf seine Mutter wegen ihrer Missachtung seiner Bedürfnisse ausgedrückt hatte, fühlte er sich impotent und machtlos, weil er ihre tiefen Gefühle nicht erreichen konnte. Dann näherte er sich mir sexuell-verführerisch. Er re-inszenierte die Behandlung durch seine Eltern, indem er sich wegen seiner Bedürftigkeit herabwürdigte, weil er sich seiner Männlichkeit beraubt fühlte und dann versuchte, seine Bedürfnisse mittels Verführung zu befriedigen. Wenn er sich zärtlich öffnete, hatte er in Beziehung das Gefühl, den Kontakt zu seinem Becken und seine Sexualität zu verlieren. Wenn er Kontakt zu Huren aufnahm, war er frustriert, weil seine Bedürfnisse wieder einmal nicht befriedigt wurden. In Beziehung mit einer Frau zu leben bedeutete, dass er in der Falle saß und sich um sie kümmern musste, genau wie er sich damals mit Mutter und Schwester fühlte, alleingelassen entweder mit dem Verlust seiner Männlichkeit oder mit seinen unbefriedigten emotionalen Bedürfnissen. Kein Wunder, dass er nie in der Lage gewesen war, sich an eine Frau zu binden.

Obwohl sein Becken nicht geöffnet war, fühlte er sich viel wohler, wenn er es mit sexueller Aggression und Wut bewegte als wenn er sanfte Gefühle hatte. In der Aggression fühlte er sich als Mann. Als er fortfuhr, sein Becken zu bewegen und es sich öffnete, begann die energetische Ladung in seine Brust aufzusteigen. Schmerz und Sehnsucht brachen hervor und damit die Wut auf seine Eltern, weil sie ihn verlassen hatten. Als nächstes kamen Scham und Verlegenheit, kein »richtiger Mann« zu sein. »Richtige Männer« weinen nicht. Sie bewegen ihr Becken kraftvoll und aggressiv, frei von Wünschen nach Sanftheit und Kontakt. Dann versuchte er ein Image von Männlichkeit zu präsentieren – verführerisch und gefühllos.

Und dies war die Vorstellung, die er von seinem Vater übernommen hatte – nimm dich in Acht vor den Frauen. Doch es gab kein Vorbild dafür, sich Gefühle oder Bedürfnisse zuzugestehen. All jene Empfindungen waren weibisch; nur Frauen stand Fürsorge zu. So gab er in seinen sexuellen masochistischen Fantasien gern vor, eine Frau zu sein, machtlos, jedoch versorgt, gehalten und wertgeschätzt. Doch Frausein hieß auch missbraucht und benutzt zu werden und machtlos zu sein. So konnte er seine Fantasien mit Prostituierten ausagieren, bis dass er Angst bekam, sie würden die Führung übernehmen und ihn missbrauchen. Weil seine Eltern seine narzisstischen Grundbedürfnisse leugneten, entwickelte er eine Art, sie mittels der kulturellen Stereotypen zu befriedigen, die er beobachtete. Männer sind stark, sexuell und gefühllos; Frauen hingegen – schwach, passiv und geliebt.

Weibliches Körperbild, Sexualität und Scham

Die Situation des kleinen Mädchens unterscheidet sich von der ihres Bruders. Ihr wird zwei Mal das Herz gebrochen, einmal von Mama und einmal von Papa. Ihre liebevollen Gefühle, ihre Bereitschaft sich zu kümmern und ihre Umarmungen werden ermutigt – »Papas Mädchen«, das mit Puppen spielt –, während ihre natürliche Aggression und Selbstbehauptung nicht honoriert werden – sanfte leise Stimme, kleine Schritte, stilles Spiel.

Also hat sie sich Papa zugewandt, nicht als einem Vorbild wie ihr Bruder, sondern als jemandem zum Liebhaben. Ihre Mutter ist unfähig sie zu unterstützen, denn die Mutter ist bereits Objekt der Kultur. Als Sexualobjekt hat sie gelernt, dass sie ihre eigenen Leidenschaften kontrollieren muss, denn sonst werden Männer ihretwegen die Kontrolle verlieren, sich in Bestien verwandeln, Ehebruch begehen, vergewaltigen oder sich der Pornografie zuwenden. Weil die Mutter Angst vor ihrer eigenen Sexualität hat, Angst vor ihrem Mann, ihrer Mutter, weil sie sich Sorgen darüber macht, dass sie kein Geld hat, dass ihr Körper zu üppig, ihre Energie zu intensiv ist, weil das Herz dieser Mutter nicht offen ist, kann sie ihrer Tochter nicht zubilligen, sie selbst zu sein. Sie kritisiert die Selbstbehauptung ihrer Tochter, ihre Koketterie. Natürlicherweise wendet sich die Tochter dem Vater zu. Vielleicht kann sie ihm gefallen. Wenn er zu Hause ist, zugänglich und warm, werden ihre liebevollen Gefühle, ihr Wunsch nach Fürsorge, ihre Umarmungen ermutigt – sie ist »Papas Mädchen«. Sie versucht ihm zu gefallen, seine perfekte Gefährtin zu sein. Anders als die Mutter nörgelt oder kommandiert sie nicht. Er wird sie nicht demütigen, wird sie immer lieben. Und natürlich liebt er sie, und zwar solange sie ein kleines Mädchen bleibt und keine eigene Meinung entwickelt, die sich von seiner unterscheidet, solange sie nicht zu erwachsen, zu mächtig und zu bedrohlich wird.

Ist der Vater hart und distanziert, wird das kleine Mädchen dennoch versuchen, ihn zu bezaubern, nicht seinen Zorn zu erregen; sie wird versuchen, die magischen Worte zu lernen, die seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, eine Expertin darin zu werden, emotionale Signale anderer zu entschlüsseln und dabei den Kontakt zu ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen verlieren. Er braucht nicht einmal anwesend zu sein. Mit der Zunahme von Scheidungen und Alleinerziehenden und der historisch geprägten Auffassung, dass Väter ihre Zeit bei der Arbeit verbringen, leiten sich viele Gedanken zu Vater und Männlichkeit von Bildern aus Film, Fernsehen und Büchern her. So verwendet das kleine Mädchen diese kulturellen Vorstellungen, um sich den idealen Vater zu schaffen, dem sie zu gefallen hofft. Wieder einmal strebt sie an, besser als ihre Mutter zu sein. Sie wird höflich und charmant in der Hoffnung, dass sie ihren Mann halten kann, dass sie nicht wie ihre Mutter gedemütigt oder verlassen wird.

Als sie heranwächst, wird ihr Körper allmählich weich, gewinnt an Fülle, rundet sich. Eine Erregung rührt sich in ihr. Kim Chernin beschreibt dieses erste Erblühen des jungen Mädchens.

»Wir sehen sie vor uns […] wie sie sich im Spiegel bewundert. Sie betrachtet eingehend diese Brüste, den sich rundenden Bauch, diese volleren Schenkel, die sie wie ihre Mutter aussehen lassen. Sie kämmt ihr Haar zurück und steckt eine Blume hinein; sie nimmt Mutters Lippenstift aus der Schublade und betont die Farbe ihrer Wangen. Jetzt duftet sie nach Parfum, sie hat einen Schal um ihre Schultern drapiert und nun tanzt sie, die Arme nach oben gereckt und lässt ihren Bauch kreisen. Sie hat diesen Tanz nie zuvor gesehen, doch ihr Körper kennt seine Bewegungen, wie er auch eines Tages wissen wird, wie er sie zur Mutter machen kann, und er wird sie anleiten, kundig und zärtlich ein Kind zu versorgen, dieser sich jetzt biegende Körper, der nicht länger sein Spiegelbild zu studieren braucht, um sich kennenzulernen, sondern der sein Wissen um die eigenen Kraft, um seine sinnliche Macht aus dem Tanz schöpft. Doch da öffnet sich plötzlich die Tür, und das Mädchen fährt herum, alarmiert und doch voller Entzücken, ängstlich, weil sie spürt, dass sie den Bogen überspannt hat und doch begierig, dieses neu erworbene Wissen um die im Körper entdeckte Lust zu zeigen. Sie streckt die Arme aus, noch im Tanz, ein Lächeln auf den Lippen, während sie in ihrer Unschuld auf ihn zugeht. Es ist ein älterer Bruder, es könnte auch ihr Vater sein oder ein Onkel, der das Wochenende mit der Familie verbringt. Und er wiederum missversteht sie, greift nach ihr und verwandelt damit unschuldige Lust in Verführung. Oder er bekommt Angst und schleudert ihr im Hinausgehen über die Schulter eine Zweideutigkeit hin, sodass sie sich schämt. Oder er wird böse, schnappt sich ein Handtuch und wirft es ihr über, als sei dieses sich selbst entdeckende Fleisch etwas Gefährliches oder Ekelerregendes. Oder er schlägt vielleicht wild um sich, weil er im selben Moment zugleich vom Begehren, der Furcht und der Wut seiner erwachten männlichen Urinstinkte überwältigt wird. Er schlägt sie, packt sie an den Schultern und schüttelt sie, ruft ihre Mutter und schickt sie hinein, damit sie dem Mädchen eine Lektion erteilt« (Chernin, 1981, S. 158f., übersetzt von I. Diekmann).

Nun kann sie nicht mehr »Papas Mädchen« sein. Ihr Körper wird weiblich, und alles in unserer Kultur sagt, dass die Frau zu verachten ist. So wird sie zur Anorektikerin, zur Bulimikerin: Lass’ den Körper hungern, werde nicht zur verhassten Mutter, mach’ Papa ewig Freude. Scham blockiert Energie, verhindert die energetische Ladung des Beckens, blockiert die Arme und hindert sie somit, ihre Liebe auszudrücken und doch auch dem geliebten Mann etwas entgegenzusetzen.

Sexueller Missbrauch der Frau und Scham

Wenn der Vater, Bruder oder Onkel sich nicht entfernt, sondern das Mädchen zu seinem eigenen Vergnügen benutzt, dann hat er die natürliche Erregung des Kindes gestört, die unterschiedslos zwischen Becken und Herz fließt. Jene Liebe, jenes Vertrauen werden für die Lust eines Erwachsenen missbraucht. Das Mädchen ist übererregt, da es zu viel energetische Ladung im Becken gibt, jedoch keine Möglichkeit, sie zu halten. Als Erwachsene greifen diese Frauen oft zu Drogen, Alkohol, jedwedem Betäubungsmittel in dem Versuch, ihre energetische Ladung unter Kontrolle zu halten. Ihre Erregung verwandelt sich in Angst; das sehnende Sich-Ausstrecken ist unterbunden aus Furcht vor Grenzverletzung, ihre Herzen gebrochen, voll Trauer. Missbrauch eines Kindes durch einen Erwachsenen, den zu respektieren und ihm zu vertrauen es gelernt hat, ist ein Verrat an der Liebe.

Wie viele Male besteht das Problem in der Arbeit mit unseren weiblichen Klienten darin, sie bei der Öffnung ihres Beckens zu unterstützen! Das widerspricht der gesamten kulturellen Konditionierung, die ihnen vorgeschrieben hat, die energetische Ladung und ihre Erregung klein zu halten. Das wurde mir mit einer Klientin plastisch vor Augen geführt, mit der ich einige Jahre gearbeitet hatte. Ihre Brust war oral und eingesunken, doch ihr unterer Rücken war gehalten mit einer totenbleichen Zone direkt über dem Gesäß. Dort hatte sie große Schmerzen und verspannte immer wieder ihren Rücken. Nach langer Therapie, in der wir an der Öffnung von Brust und Becken arbeiteten, äußerte sie noch immer, dass sie keinen Sex mit ihrem Mann haben wollte. Die Ursache ihrer Unlust offenbarte sich, als sie mit ihrem Mann in die Praxis kam, um über das Problem zu sprechen.

Sie saß zwischen zwei Stühlen. Einerseits fürchtete sie, als frigide abgestempelt zu werden, wenn sie ihren Mann abwies, andererseits widerte sie seine sexuelle Erregung an. Ich nahm es wahr, als sie über die Freude ihres Mannes sprach, wenn er sie anschaute: sie senkte den Kopf und presste die Hände auf ihren Schoß. Als ich fragte: »Was passiert, wenn ihr Mann sie anschaut?«, antwortete sie: »Ich fühle mich wie eine Hure.« Mit blassem Gesicht begann sie zu erzählen, wie ihr Vater sie beobachtete, als sie ein Teenager war – unverhohlen interessiert und erregt, und doch vermittelten ihr beide Eltern, Sex sei schmutzig und schlecht. Das also war ihr Dilemma. Beide Eltern erkannten ihre Entwicklung zur Frau, doch anstatt sie mit Stolz zu betrachten, brachten sie ihr bei, dass sie schlecht und schmutzig sei und sich verstecken müsse. Anstatt heute der Erregung ihres Mannes entsprechen zu können, reagierte sie darauf ganz so wie ihre Eltern früher auf ihre eigene Erregung reagiert hatten – mit Scham und Abscheu.

Als Körpertherapeuten, die mit sexuellem Missbrauch arbeiten, sind wir auf den Energiefluss im Körper und Emotionen wie Wut und Angst eingestimmt. Mit den vielen Jahren meiner Arbeit mit sexuellem Missbrauch bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass Scham die schwerwiegendste Schädigung bei sexuellem Missbrauch darstellt. Vor 50 Jahren behandelte ich als Teil meiner Ausbildung Klienten am Gesundheitszentrum der Universität von Wisconsin. Viele von ihnen kamen aus ländlichen Gegenden in Nord-Wisconsin. Es stellte sich heraus, dass Inzest in diesen ländlichen Gegenden ziemlich verbreitet war. Ich war erschüttert, dass Studentinnen mir von sexuellen Begegnungen berichteten, die sie mit ihren Vätern, Brüdern, Onkeln, Vettern ohne größere Angst erlebt hatten. Zur Therapie kamen sie aus anderen Gründen. Ihre Kommilitoninnen an der Universität ließen sie jedoch wissen, dass solches nicht übliche Praxis war. Zum ersten Mal schämten sie sich und wurden ängstlich. Scham war verstörender als die eigentliche sexuelle Begegnung.

Als Therapeuten müssen wir sehr vorsichtig sein, wenn wir die Sexualität eines Klienten erschließen, ganz besonders in Fällen von sexuellem Missbrauch. Es ist ein kritischer Moment, denn wenn man das Thema Scham nicht sofort anspricht, wird der Klient dem Gefühl überlassen, er oder sie sei schlecht, was zu selbstschädigendem Verhalten führen kann wie zum Beispiel sich schneiden, zu viel essen oder Drogenkonsum. Es kann auch eine der Abwehr dienende Attacke gegen den Therapeuten geritten werden, um sich vor dem »schlechten Selbst« zu schützen. Der Therapeut, der solche Gefühle in mir freisetzt, muss schlecht sein. Er oder sie ist nun der Täter, der den Klienten überstimuliert. Dieser Kongress ist deshalb so wichtig, weil er uns vor den Faktoren warnt, die Schamgefühle erzeugen und vor den daraus resultierenden Reaktionen.

Scham und Außenseiter

Wie zu Beginn dieses Artikels erwähnt, wurde Scham, als ich ihr zuerst begegnete, nicht als echtes Gefühl betrachtet. Ich lerne noch immer Neues zum Thema Scham und habe in meinem täglichen Leben damit zu tun. Haben Sie jemals den Namen Janet Buckner gehört? Auch ich nicht, bis dass ich diese Geschichte auf Facebook hörte. Als sie über ein Ereignis sprach, das vor 30 Jahren geschehen war, begann sie zu schluchzen. In ihrer Kindheit war es Schwarzen nicht erlaubt, im öffentlichen Bad zu schwimmen außer am letzten Tag vor der Reinigung. Diese Regel bestand aus dem einzigen Grund, weil Menschen wie sie, Schwarze, das Wasser vermeintlich kontaminiert hatten und auf diese Weise ihr Schmutz weggespült werden konnte.

Viele Jahre später wurde der Bann gegen das Schwimmen von Schwarzen im öffentlichen Bad aufgehoben. Als Janet das Bad betrat und zu schwimmen begann, hörte sie das Wort »Nigger«. Allein dieses Wort ließ sie auf den Grund des Pools sinken, und sie wäre ertrunken, wenn sie nicht jemand gerettet hätte. Offensichtlich war sie in einen Schockzustand geraten.

Etwas an ihrer Geschichte kam mir bekannt vor. Ich musste unbedingt mehr über sie herausfinden, und so begann ich ihren Namen im Internet zu suchen. Das Erste, was ich erfuhr, war, dass sie eine Vertreterin des Staates in der Legislative von Colorado gewesen war. Doch es bedurfte längeren Suchens, bis ich herausfand, dass sie und ich im selben Jahr geboren waren, und dass sie in Indianapolis, Indiana, geboren worden war. Das ist die größte Stadt in meinem Herkunftsstaat. In meiner Jugend war es Juden nicht erlaubt, im »Country Club« zu schwimmen, und in einigen Staaten gab es getrennte Ruheräume für Juden und Nicht-Juden.

Wissen Sie, ich wuchs als einzige Jüdin in einer ländlichen High School mitten im »bible belt« auf. Ich wusste, dass Trump gewählt werden würde, dass der Ku-Klux-Klan wieder marschieren und dass es zu Gewalt kommen würde. Ich wollte mich verstecken, an einen sicheren Ort fliehen. Dann erst merkte ich, dass ich nicht mehr im ländlichen Indiana war, sondern in Santa Cruz in Kalifornien lebte, der vermutlich liberalsten und progressivsten Gemeinde der Welt. Jedoch als Angehörige einer Gruppe, die derart verachtet wird und während fast der gesamten Periode der Zivilisation systematischen Genozid durch die jeweilige Leitkultur erlitten hat, ist es mir unmöglich, dessen Auswirkung nicht zu spüren. Daher möchte ich nicht nur die biologischen, somatischen und entwicklungsbedingten Grundlagen von Scham zur Diskussion stellen, sondern ich möchte darüber hinaus die Aufmerksamkeit auf die Scham der Außenseiter lenken: die antisemitischen Gefühle gegenüber Juden, die Homophobie gegenüber Homosexuellen. Außenseiter sind anders. Sie sind die Teile eines Puzzles, die nicht ihren Platz im Gesamtbild finden. Sie sind die Schwarzen in Eliteschulen, der Junge, der in einer Familie von Mormonen oder Evangelikalen Christen mit seiner Homosexualität zurechtkommen muss, die Psychosomatiker unter den Psychologen, die von Fachleuten umgeben sind, welche glauben, dass die Kognitive Verhaltenstherapie die Behandlung der Wahl ist. Die Außenseiterin bin ich, das einzige jüdische Mädchen, dessen beste Freundin die einzige Katholikin ist, und deren Eltern aus Italien in dieses Land kamen. Die Außenseiterin ist meine Klientin, die aus Nordkorea in die USA und in die vierte Klasse einer weitgehend von Schwarzen besuchten Schule in Michigan kam. Sie sagte: »Es gibt Schimpfwörter für Mädchen wie mich, die äußerlich asiatisch aussehen (gelb) und innerlich weiß sind. Wir werden ›twinkies‹ genannt.« Natürlich gibt es noch andere Schimpfwörter: »Nigger, Schlitzauge (›gook‹), dreckiger Jude (›dirty jew‹), Itzig (›kike›), Shylock (›Shylock‹ – jüdischer Wucherer)«, und es gibt Schimpfwörter für meine beste Freundin »Spaghettifresser (›wop‹)«, Wörter, deren Klang uns lehrt, dass wir widerwärtig sind. Wenn ich einen Juden sehe, der laut und aggressiv ist, fühle ich mich abgestoßen und möchte mich verstecken. Wenn ich einen schwulen Klienten habe, spreche ich seine Homophobie an, seinen Wunsch, heterosexuell zu sein, denn schwule Männer werden als noch abstoßender behandelt als Juden und als noch minderwertiger als Frauen.

In jedem von uns leben Außenseiteraspekte. Das sind unsere Selbst-Anteile, mit denen unsere Eltern nicht zurechtkommen konnten. Ich sitze bei meinen Klienten und sehe zu, wie sie sich für ihre Bedürftigkeit beschimpfen, wenn sie doch deutlich ihre Entbehrungen artikulieren, oder für ihre Erbärmlichkeit, wenn sie doch mit ängstigenden Themen des realen Lebens konfrontiert sind. Diese unbefriedigten Bedürfnisse sind unsere Scham, und wir finden sie widerlich. Bioenergetik gibt uns Mut, entblößt uns und offenbart diese beschämenden Anteile unserem Therapeuten. Unsere Aufgabe ist es, wachsam zu sein, auf welche Weise die Klienten diese Anteile verbergen oder sich selbst schlecht behandeln, wenn sie sie erleben. Als Therapeuten müssen wir diese Selbst-Anteile aufstöbern und sie hegen und pflegen. Männer und sexueller Missbrauch sind eine andere Angelegenheit. Wenn Frauen als minderwertig betrachtet werden, dann ist ein sexuell missbrauchter Mann nichts weiteres als eines anderen Mannes Hure, minderwertig wie es Frauen sind. Er dient einzig und allein der Lust eines anderen Mannes und ist selbstwertlos. Man stelle sich diese Scham vor! Interessant allerdings: wenn eine Frau sich verteidigt, nennt man sie eine Schlampe.

Schlussbemerkungen: Heilung der Scham

Es gibt eine andere weniger offensichtliche Reaktion auf Scham. Ich nenne sie »die negative Stimme«. Ich wurde darauf aufmerksam, nachdem ich einen Leitvortrag bei einem Bioenergetik-Kongress gehalten hatte. Im Jahr zuvor hatte ich einen Workshop zum Thema Scham angeboten. Danach lud mich die Faculty ein, einen Leitvortrag zu halten; das geschah unmittelbar nach Beendigung meiner Ausbildung und Ernennung zum Local Trainer. Ich wusste, dass einige meiner Trainer stolz auf mich waren, andere hingegen eifersüchtig und neidisch.

Ich hielt den Vortrag. Das Thema des Kongresses war Spiritualität und ich beschrieb meinen inneren Prozess während der Arbeit mit einem autoaggressiven Klienten. Ich kam zum Schluss, schaute ins Auditorium, und man hätte eine Nadel fallen hören können. Es herrschte absolute Stille und ich erstarrte. Weil mir nichts anderes einfiel, begann ich ein hebräisches Lied zu singen, und ich habe nicht wirklich eine Singstimme. Ich stand einfach da, und meine Freundin Judith führte mich von der Bühne, während ich stehende Ovationen mit donnerndem Applaus bekam. Die ganze Woche lang sagten Menschen meinem Mann, meinen Freunden und mir, wie wundervoll ich war. Was dann folgte, war eines der elendesten Jahre meines Lebens. Jene Erfahrung löste eine tiefe Depression aus. Eines Tages beim Fahrradfahren kam mir eine ständige Unterhaltung in meinem Kopf zu Bewusstsein. Ich drehte die Lautstärke auf und entdeckte, dass eine Straßengang in mir lebendig war. Ich war schockiert darüber, welch gemeine Dinge ich zu mir sagte, und mir wurde klar, dass ich in der Art nicht einmal mit jemandem sprechen würde, den ich nicht mochte. Ich spürte auch eine Enge um Brust und Zwerchfell. Also begann ich meinen Atem zu diesen Bereichen zu schicken. Die Stimme hatte in der Tat ein Argument vorzubringen, schoss dabei aber weit über das Ziel hinaus. Im Laufe der Jahre habe ich entdeckt, dass die Stimme dann in Erscheinung tritt, wenn ich reichlich positive Aufmerksamkeit erhalten habe. Sie hat ihren Ursprung in der Eifersucht meines älteren Bruders, die ich erlebte, als wir noch Kinder waren. Es ist gut diesen Auslöser zu kennen; wenn ich heute von einer Party zurückkehre, auf der mir viel positive Aufmerksamkeit geschenkt wurde, bin ich daher wachsam, ob sich möglicherweise schlechte Gefühle einstellen und bin dann in der Lage mit ihnen zu arbeiten.

Dreh die Lautstärke auf. Wo in meinem Körper verspanne ich mich, wenn ich diese Stimme höre? Atme in diesen Bereich. Würde ich auf diese Weise mit jemandem sprechen, den ich nicht mag? Gab es in dem, was die Stimme sagte, eine nützliche Information?

Eine andere Möglichkeit, Scham zu heilen, besteht darin, unseren Klienten zu helfen, ihr Verhalten aus einem anderen Blickwinkel, das Offenbarte im Kontext der menschlichen Situation zu sehen. Eine der wirksamsten Methoden zur Heilung von Scham findet man in einer Gruppe, besonders wenn die Person in Gesellschaft anderer mit ähnlichen Erfahrungen ist. Deshalb ist ME TOO eine solch starke Bewegung geworden, und es erklärt auch, warum Gruppen für erwachsene Kinder von Alkoholikern, für sexuell belästigte Menschen, für Bulimiker und Anorektiker so populär sind. Die Teilnehmer können über ihre frühen Erfahrungen des Leugnens und Sich-Versteckens sprechen, erkennen, dass andere in ähnlichen Situationen die gleichen Reaktionen zeigten – und der Fehler lag nicht bei ihnen. Das Kind beschuldigt sich immer selbst dafür, dass es nicht die Hilfe oder das Feedback bekommen hat, das es so dringend gebraucht hätte. Das Kind sei selbst schuld an der Belästigung oder die Frau sei schuld am sexuellen Missbrauch. In einer Gruppe hört die beschämte Person Geschichten anderer, denen es erging wie ihr selbst. Wenn der andere unterstützt und ermutigt wird, seine Scham loszulassen, merkt auch die betreffende Person, dass sie oder er keine Schuld trägt, nicht verabscheuungswürdig oder minderwertig ist und kann beginnen, sich selbst zu vergeben.

Als ich eine besonders schwere Zeit in meiner bioenergetischen Therapie durchmachte – mein Therapeut arbeitete an der Öffnung meines Herzens, und als Folge davon hatte sich meine Sexualität verabschiedet – ging ich zu einem afrikanischen Tanzunterricht. Fünf oder sechs Männer saßen an der Stirnseite des Raums und trommelten, während die Frauen ihre Hüften und Schultern kraftvoll, aber sinnlich zum Rhythmus bewegten. Anfangs war ich schüchtern und angespannt bei dem Gedanken, mich vor den Männern zu bewegen. Meine Schultern fühlten sich eingefroren an, mein Becken steif und blockiert. Doch langsam, mit der lächelnden Unterstützung der anderen Frauen (später auch der Männer – lange schaute ich sie gar nicht an) begann ich mich zu bewegen, zu tanzen, mit den Füßen zu stampfen und Becken und Schultern zu schwenken. Ganz plötzlich fühlte ich mich frei, meinen Körper nach meinem Willen zu bewegen. Ich fing an, die Straße in langen Schritten mit einer Bewegung aus der Hüfte hinunterzugehen. Wenn ein Mann das anerkennend kommentierte, lächelte ich zustimmend zurück. Früher hätte ich das Gefühl gehabt, meine Kraft verloren, mich für ihn aufgegeben zu haben, nur weil ich angeschaut wurde. Allmählich begann ich den Weg zu fühlen, den ich ging und meinen Weg zu gehen so wie ich mich fühlte.

Übersetzung: Irma Diekmann

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Die Autorin

Helen Resneck-Sannes, Ph.D., ist Psychologin in privater Praxis und hat an Universitäten und Colleges gelehrt. Sie ist Autorin etlicher Publikationen und bestens bekannt für ihre Fähigkeit, verschiedene Konzepte in die Theorie und Praxis der Bioenergetik zu integrieren. Sie ist Mitglied der International Faculty und war Eröffnungsvortragende bei Kongressen, Mitherausgeberin des Journals und Leiterin von Ausbildungsgruppen in den Vereinigten Staaten, Kanada, Europa und Neuseeland.

www.helenresneck.com
helenrs@aol.com

Anmerkung

[1]
Eröffnungsrede bei der Southern California Bioenergetic Conference, 2018