Scott Baum
Bioenergetic Analysis • The Clinical Journal of the IIBA, 2019 (29) DE, 23–40
https://doi.org/10.30820/0743-4804-2019-29-DE-23 CC BY-NC-ND 4.0 www.bioenergetic-analysis.comDieser Artikel untersucht das Phänomen der Scham und verwandter Gefühle aus klinischer und theoretischer Perspektive der Bioenergetischen Analyse. Es werden Verbindungen zum generellen Problem menschlicher Destruktivität und zu deren spezifischen Ausdrucksformen dargestellt. Ebenso wird aufgezeigt, wie Scham und Beschämung destruktiv in Beziehungen und in Familien eingesetzt werden. Das persönliche Ringen des Autors wird genutzt, um eine Möglichkeit zu beleuchten, mit zerstörerischer Scham zu leben.
Stichworte: Scham, Bioenergetische Analyse, menschliche Destruktivität, neurotische Schuld.
Ein Überblick über die Literatur bezüglich Scham und damit verbundener Gefühle offenbart einen immer wiederkehrenden Refrain: Bevor beispielsweise Morrison (1989) und Goldberg (1991) eine umfassende Prüfung der Literatur und Theorie von Scham in psychoanalytischen Konzepten unternahmen, die sich damit befasst, Persönlichkeitsbildung und menschliches Verhalten zu verstehen, stellten beide gleichermaßen fest: Scham als ein ganz besonderes Phänomen wurde bislang sehr wenig erforscht. Dies ist erstaunlich, da Scham ein unmittelbares, somato-psychisches Geschehen ist, das eigentlich ein Teil menschlicher Erfahrung zu sein scheint. Was könnte zu solch einem Versäumnis geführt haben? Könnte es mit der unentwirrbaren Verkettung von Scham und Destruktivität zu tun haben? In diesem Artikel werde ich dahingehend argumentieren, dass ein Grund dafür, Scham als einen grundlegenden emotionalen und seelischen menschlichen Vorgang zu vernachlässigen, mit ihrer Verbindung zur Erfahrung und der Auseinandersetzung mit unserer eigenen Destruktivität zu tun hat. Das im Titel erwähnte Dilemma bezieht sich auf die Tatsache, dass menschliche Destruktivität ein eigentlicher Bestandteil unserer Natur ist. Tatsächlich dient Scham als ein Mittel zur Kontrolle des ungehemmten Ausdrucks von Negativität. Aber Scham kann leicht als Methode zur Kontrolle Anderer in sehr destruktiver Weise benutzt werden. Wie finden wir unseren Weg durch dieses Labyrinth von Erfahrungen?
Indem ich die Theorie, klinisches Material und meine eigenen Erfahrungen nutze, werde ich vor allem aus einer bioenergetischen Perspektive die Funktionen und Bedeutungen von Schamgefühlen beleuchten. Was es heißt, mit zu viel, mit nicht genug und mit gar keinem Schamgefühl zu leben – diese miteinander verbundenen Dilemmata werde ich ebenso mit persönlichen Worten beschreiben.
Auch hier ist eine bioenergetische Perspektive nützlich. Die bei Schamgefühlen zu beobachtenden körperlichen Prozesse sind ein Sich-Ducken und ein Gefühl des Brennens. Sich zu ducken ist eine unwillkürliche Reaktion, bei der sich eine Person nach innen zurückzieht. Dies ist eine Bewegung, um sich selbst zu verkleinern und sich dem Kontakt und dem Zugehen auf die Umwelt zu entziehen. Diese Bewegung kann man bei allen Gefühlszuständen und Reaktionen wahrnehmen, die mit Scham verbunden sind – von den am wenigsten unangenehmen bis hin zu den extrem unangenehmen, von Schüchternheit über Verlegenheit, über Erniedrigung zu Schuld und Scham. Der zweite Prozess ist ein Gefühl des Brennens. Das Blut schießt an die Körperoberfläche, die Kapillaren erweitern sich und ein Erröten wird sichtbar. Aber ein Brennen findet auch tiefer im Körperinnern statt. Später im Artikel werde ich dieses Brennen den schlimmsten Schamgefühlen, der seelischen, emotionalen und zwischenmenschlichen Bedeutung des Konzeptes der Hölle zuordnen. Mitten im Kampf mit den mächtigsten dieser Zustände besteht der häufig ausgedrückte Impuls, sich zum Verschwinden zu bringen. Es wird gehofft, dass das Verschwinden die negativen Gefühle, die mit Scham verbunden sind, lindert und den Kontakt zu anderen Menschen, der die negativen Gefühle intensiviert, reduziert.
Aus einer bioenergetischen Sicht ist dies ein ganz spezifischer Vorgang: Eine generalisierte Kontraktion tief in den Eingeweiden, ein Rückzug der Energie von der Peripherie nach innen. Es ist weder ein Kollaps noch eine Kontraktion spezifischer neuromuskulärer Gruppen. Es ist kein generelles Anspannen. Ein Sich-Zusammenkrümmen veranlasst einen Menschen dazu, sich vor einer Kontaktaufnahme mit der Umwelt zurückzuziehen. Kontaktvermeidung dient als Schutzmaßnahme und wird begleitet von den oben bereits erwähnten Gefühlen, die zunehmen, je unangenehmer die Erfahrung erlebt wird.
Was ist die evolutionäre Funktion dieser menschlichen Reaktionsweisen – somato-psychischer Ereignisse – und der daraus zwangsläufig resultierenden Gefühlszustände? Um diese Frage auch nur annähernd zu beantworten, müssen Scham und die damit verbundenen Gefühle als ein grundlegendes Element von Beziehungssystemen verstanden werden. Für Sartre (1984) dient Scham dazu, sich der Existenz anderer Menschen zu versichern. Unser Schamgefühl informiert uns darüber, dass ein anderer Mensch existiert und von uns emotional berührt wurde. Der Einfluss, den wir auf diesen Menschen hatten, führt dazu, dass wir uns schlecht fühlen. Es gibt umfassende Untersuchungsdaten (Bloom, 2013) und sicherlich ebenso anekdotische Evidenz, die uns zeigt, dass sich Kinder durch Schmerz zufügendes oder verletzendes Verhalten – auch ohne ausdrückliche Instruktion von außen – schlecht fühlen.
Diese frühen Reaktionen sind rudimentäre Elemente sowohl eines eigenen Selbstsystems als auch eines Beziehungssystems. Diese zwei Systeme sind komplementär. Das erste bezieht sich auf Prozesse und Strukturen, mit denen eine Person ein positives Selbstwertgefühl aufbaut und aufrechterhält. Das zweite ist das System, das gesunde und positive Beziehungen zu Anderen aufbaut und aufrechterhält – wir nennen es Verbundenheit. Scham kann in beiden Systemen ungesund werden. Aber dies ist nicht notwendigerweise der Fall. Wenn ich das sage, meine ich, dass es auch konstruktive Elemente bei Schamgefühlen gibt, die verstanden werden müssen. Scham und ähnliche Gefühle informieren uns darüber, dass andere Menschen uns wahrnehmen und auf uns reagieren. Zusammen mit Liebe und Hass gehören sie zu den Grundgefühlen, die uns über unsere körperlichen Reaktionen in Kenntnis darüber setzen, dass andere Menschen existieren und ihre Reaktionen und Gefühle eine Bedeutung für uns haben.
Schuld und Scham sind zwei der unangenehmen Gefühle, die durch das Ausmaß unserer Verbundenheit mit unseren Mitmenschen hervorgerufen werden können. Eine Möglichkeit, die beiden voneinander zu unterscheiden, besteht darin, Schuld als ein Produkt zwischenmenschlicher Vorgänge, als ein Teil einer Transaktion zu sehen und Scham als einen größtenteils internen, selbstbezogenen Prozess. Schuld entsteht, wenn ein Mensch die Grenzen eines Anderen überschritten, ihm Verletzungen oder Schaden zugefügt hat. Ein Schuldgefühl verlangt und veranlasst eine Entschuldigung und eine Wiedergutmachung. Hat die Wiedergutmachung erfolgreich stattgefunden, könnte das Schuldgefühl abebben. Das Unrecht liegt in der Handlung und kann gesühnt werden. Das Gefühl befindet sich in den mittleren Gewebeschichten des Körpers. Scham dagegen wird tiefer im Inneren des Körpers erlebt. Es entsteht ein Gefühl, dass die Unrichtigkeit in der Person als solche liegt. Es ist ein Verkehrtsein des Selbst an sich. Entschuldigung und Wiedergutmachung verringern die Scham nicht. Tatsächlich kann die Linderung des Schamgefühls nicht leicht erreicht werden. Methoden die Scham zu reduzieren oder zu mildern sind nicht so selbstverständlich wie dies bei Schuld der Fall sein kann. Es ist eine Herausforderung, Scham zu verstehen und mit ihr umzugehen.
Eine Schwierigkeit besteht in der Tatsache, dass Scham zwei Komponenten hat. Eine Komponente sind Schamgefühle, die durch die Reaktionen anderer Menschen auf uns und unser Verhalten hervorgerufen werden. Diese Reaktionen implizieren oder drücken explizit aus, dass ein Wertesystem verletzt wurde. Durch diese Verletzung, also durch ein Verhalten, das sich gegen diese Werte und Glaubensvorstellungen richtet, beweist der Verletzende1 quasi sich selbst, dass es sich bei ihm um eine Person handelt, die solch eine Verletzung begehen kann und sich daher über sich selbst schämen sollte. Teilt der Verletzende dasselbe Wertesystem, fühlt sich die Scham deckungsgleich mit den Werten und Erwartungen an, die der Verletzende von sich selbst hat.
Hier entsteht nun Konfusion, denn eine andere Komponente von Scham kommt aus inneren Quellen. Sie entsteht, wenn das eigene Verhalten nicht zu der Vorstellung von sich selbst als einem guten Menschen passt. Diese Form der Scham kann man nicht auf jene Scham beziehen, die durch Reaktionen kritischer Anderer erzeugt wird. Es handelt sich dabei vielmehr um ein Versagen der Person selbst, ihren Standards und Erwartungen gemäß zu leben.
Wir alle sind mit sozialen Systemen vertraut, die Beschämung als eine Methode gebrauchen, um die eigene innere Wahrnehmung und das Verhalten von Mitgliedern einer Gruppe zu kontrollieren. Hier kommen wir zum ersten von vielen Zusammenhängen, die man zwischen Scham und dem Vorhandensein menschlicher Destruktivität finden kann. In vielen Glaubenssystemen, in vielen Kulturen und in vielen Gesellschaften gibt es eine starke, wenn auch nur teilweise bewusste, Überzeugung, dass Kinder und damit letztlich alle Menschen unweigerlich zu Eigennutz neigen und zur Befriedigung vor allem der eigenen Bedürfnisse – und somit zu Destruktivität. Angesichts dieser Scham wird ein überzeugendes Korrektiv benötigt, kraftvoll genug, dieses schädliche Verhalten zu zügeln.
Ebenso kennen wir alle soziale Systeme, in denen ein zentrales Programm der Gruppe, der Organisation oder der Gesellschaft darin besteht, die einzelnen Mitglieder zu kontrollieren und zu dominieren. Wie wir sehen werden, ist Beschämung dafür eine effektive Methode, weil chronische Beschämung die Gefühle, die benötigt werden um sich selbst zu vertreten, dadurch beeinträchtigt oder gänzlich verhindert. Chronische, schwächende Beschämung lässt die Strukturen zusammenbrechen, die man brauchen würde, um sich gegen die Erniedrigung des Selbst zur Wehr zu setzen. Ebenso macht es die Kraftquellen untauglich, für seine Werte einzutreten.
Dennoch ist es ein Fehler, diese von außen verursachte Scham und deren Missbrauch durch Autoritäten als einzige Quelle von Scham im Leben eines Kindes anzusehen. Eine andere Komponente von Scham entstammt der im Inneren bewahrten Vision seiner selbst als einem guten Menschen. Wenn wir glauben, dass das Streben eines Kindes, freundlich und gut zu sein, lediglich durch von außen auferlegte Unterweisungen kommt, ist die andere Art und Weise Scham zu verstehen irrelevant. Wenn wir davon ausgehen, dass in allen Menschen ein Impuls existiert, gut und rechtschaffen zu sein, dann spiegelt Scham das Scheitern eines Menschen, seinen eigenen Normen gemäß zu leben, wider. Die Schaffung eines erstrebenswerten Bildes von sich selbst, um nach einem idealisierten Selbst zu streben, scheint fest verankertes Element der Persönlichkeitsentwicklung zu sein. Es ist eine Mischung endogener Elemente, die von unserem evolutionären Erbe herrühren. Zudem werden sie durch frühe Interaktionen mit unseren Mitmenschen erzeugt, möglicherweise auch noch aus metaphysischen Quellen jenseits unserer Vorstellungskraft. Es scheint unstrittig, dass Menschen den Drang haben, das zu tun, was gut und richtig ist.
Aber wir werden ebenso von Kräften zu Handlungen angetrieben, die nicht gut und richtig sind. Gesunde, positive Selbsteinschätzung erfordert eine Fähigkeit unser Selbstbild so anzupassen, dass auch negative und destruktive Attribute mit dazu gehören. Die Person, die sich schlecht – schuldig – fühlt bezüglich dessen, was sie getan hat, muss Möglichkeiten haben, gute Gefühle wiederherzustellen. Dies schließt die Wiedergutmachung des begangenen Schadens – soweit überhaupt möglich – mit ein, aber durchaus auch eine Entschuldigung, Entschädigung und Buße. Gelingt dies, besteht die Möglichkeit der Wiederherstellung positiver Selbsteinschätzung, egal ob die geschädigte Partei nachsichtig ist oder gar die Verfehlung verzeiht.
Im Fall der Scham, von der dieser Artikel handelt, ist der Prozess der Wiederherstellung der positiven Selbsteinschätzung sogar noch schwieriger wegen des gefühlten Erlebens, selbst schlecht zu sein und nicht etwa nur, weil die eigenen Handlungen als schlecht bewertet werden. In diesem Fall ist die Reaktion eines Menschen bezüglich dieses schlechten Gefühls und sein Versuch es zu lindern oder gar zu beseitigen, nicht klar. In beiden Fällen muss die Antwort auf diese Schuld- und Schamgefühle eine wohldurchdachte Anstrengung beinhalten, sich den Gefühlen und ihrer Bedeutung zu stellen. Sie kann nicht heißen, sich vor seiner eigenen Wirklichkeit zu drücken, die durch die unangenehmen Gefühle ans Tageslicht kommt. Eine reife Fähigkeit zu entwickeln, die eigenen destruktiven Gefühle und Impulse – wie beispielsweise Negativität, Gier und Neid – anzuschauen, ist notwendig für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Selbstachtung. Scham signalisiert, dass jemand auf eine Art und Weise gefühlt und sogar gehandelt hat, die nicht im Einklang damit steht, welche Person man zu sein anstrebt. Diese Scham zu ignorieren, verhindert sowohl Selbsterkenntnis als auch das Wissen, welche Wirkung man auf andere Menschen hat.
Ist Selbstachtung nicht entwickelt oder nicht als eine somato-psychische und emotionale Struktur solide etabliert worden, kann das erfolgreiche Abfangen eines Angriffs gegen die Selbstachtung, in dem Schuld- und Schamgefühle enthalten sind, nicht konstruktiv eingesetzt werden. Die Erholung des positiven Selbstwertgefühls ist dann schwierig bis unmöglich (mehr dazu später). Ist dies der Fall, müssen Schutzmechanismen – wir nennen sie narzisstische Schutzmechanismen – ausgebildet und angewandt werden, um das eigene Ego vor irreparabler Herabwürdigung und damit einhergehender Selbstverurteilung zu schützen. Die Auseinandersetzung mit und Anerkennung der eigenen Negativität und Destruktivität werden limitiert und die Integration dieser Charakterzüge in eine reife Identität wird eingeschränkt. Geschieht dies, sind die Auswirkungen auf Beziehungen tiefgreifend.
Die Geschichte menschlichen Denkens, spiritueller Suche, politischer Theorie und psychologischer Untersuchungen ist vielfach durchdrungen von der Notwendigkeit, menschliche Destruktivität zu verstehen. Ist der Drang zu zerstören, zu schädigen, Leid zu verursachen, Schmerz zuzufügen, zu beherrschen, auszubeuten ein wirklicher Bestandteil der menschlichen Spezies, ein unvermeidbarer Teil der menschlichen Existenz? Oder sind diese Impulse Phänomene eines Zusammenbruchs, dadurch verursacht, dass gesunde, konstruktive Bedürfnisse und Triebe während der kindlichen Entwicklung durch unempathische, lieblose, oder gar verletzende und grausame Erwachsene hintertrieben oder verzerrt wurden?
Letztere Sichtweise, dass Scham ein Produkt zwischenmenschlicher Interaktion ist, beruht auf der Beobachtung und Erfahrung, die wir vermutlich alle mit Menschen gemacht haben müssen, die versucht haben uns klein zu machen und uns dazu zu bringen, uns als Mensch schlecht fühlen. Es gibt viele Gründe, weshalb Menschen das einander antun, aber die Absicht dahinter ist offensichtlich. Einen Menschen dazu zu bringen, sich klein, unterlegen, unbedeutend und wertlos zu fühlen, reduziert seine Fähigkeit für sich selbst einzutreten. Es verringert dessen Kraft.
Die gesunde Nutzung von Kraft beruht auf einem positiven Selbstwertgefühl. Dieses wiederum beruht auf dem Gefühl gut zu sein. Das Gefühl gut zu sein wiederum beruht auf der Erfahrung eigener Güte und dem Glauben an die Güte und Freundlichkeit der eigenen Bezugspersonen während der kindlichen Entwicklungsphasen.
Eine bioenergetische Perspektive liefert Einsichten in den Zusammenhang von Güte, Macht und den zwischenmenschlichen Einflüssen und Dynamiken von Scham. Ein tiefes Verständnis von Freude und Lust zeigt eine Verbindung zum Wohlwollen und zur Güte im Universum. Diese Verbindung wird ausführlich in der Monografie über Moderne Bioenergetik erforscht, die von der New Yorker Gesellschaft für Bioenergetische Analyse (2011) herausgegeben wurde. Wird die tiefe innere Verbindung zum eigenen Gutsein in einem Menschen abgeschnitten, von der Zustimmung Anderer abhängig gemacht oder gar zerstört, wird dieser Mensch kontrollierbar.
Beschämung kann genutzt werden, um einen anderen Menschen klein zu machen. Dies ist der energetische und emotionale Einfluss von Erniedrigung. Chronische Beschämung und Erniedrigung haben vernichtende Auswirkungen auf die Gewissheit eines Menschen bezüglich des eigenen Gutseins. Diese Gewissheit ist Teil des Fundaments, das für die Entwicklung und Aufrechterhaltung eines positiven Selbstwertgefühls gebraucht wird. Diese tiefe innere Verbindung zum eigenen Gutsein unterstützt die Autonomie. Ebenfalls stärkt sie die Möglichkeit, sich seiner Negativität und Destruktivität zu stellen und die Verantwortung dafür zu übernehmen ohne komplette Ego-Schwächung und den daraus resultierenden Depressionen oder kompensatorischen Abwehrmechanismen, die eine falsche Sicherheit und eine falsche Selbstachtung hervorrufen.
Ist das unangenehme Gefühl, das wir Schamgefühl nennen, Folge von Absichten und Handlungen Anderer, die dazu dienen sollen, uns zu dominieren und zu kontrollieren, dann ist die einzig vernünftige Reaktion darauf, sich zu bemühen zurückzuschlagen, um diese Vorhaben zu vereiteln. Zurückschlagen ist sehr schwer, wenn nicht sogar unmöglich, wenn die grundlegende Überzeugung über sich selbst lautet, dass ich mich schäme, weil ich in der Tat schlecht und wertlos bin. Unter diesen Bedingungen das eigene Gutsein durchzusetzen ist zwecklos. Es wäre, als würde man mit Gott persönlich argumentieren, dem Wesen, das letztlich der Gebieter über das Gute und das Schlechte ist.
Glauben wir jedoch, dass Schamgefühle im Leben unvermeidlich sind, dass jeder – ganz gleich was für ein guter Mensch er auch sein möge – fehlerhaft genug ist, destruktive, lieblose, eigennützige Verhaltensweisen nicht immer zu vermeiden, dann erfordert eine konstruktive Reaktion auf Scham und die Erlebnisse, die dazu führten, ein stabiles Fundament positiven Selbstwertgefühls, um uns dabei zu unterstützen, uns der mühsamen und herausfordernden Aufgabe zu stellen, uns mit unserer eigenen Destruktivität auseinanderzusetzen. Dabei gilt es, das Wissen um diese Destruktivität zu verarbeiten, Wiedergutmachung gegenüber Anderen zu leisten und uns selbst so zu verändern wie es erforderlich sein mag.
Wir sehen hier die Interaktion zwischen dem eigenen Selbst und den zwischenmenschlichen Beziehungen. Selbststrukturen, die auf Selbstachtung gegründet sind, sind abhängig von zwischenmenschlichen Systemen und interagieren mit ihnen. Selbstachtung ist eine Mischung aus der inneren Wahrnehmung meiner selbst und den Einflüssen der Interaktionen mit den Mitmenschen. Bei gesunden Menschen werden Informationen über sich selbst, die durch das Scheitern entstehen, den eigenen Idealen gemäß zu leben, oder durch die Rückmeldung unserer Mitmenschen hinsichtlich unseres Verhaltens, verarbeitet und für das eigene Wachstum und für Selbstentwicklung genutzt.
Fehlt die grundsätzliche Selbstachtung, wird es sogar bei berechtigten Gründen für Scham in unserer Persönlichkeit oder in unserem Verhalten unmöglich, sich damit auseinanderzusetzen. Das Abwehren bösartiger Versuche Mitmenschen zu beschämen, wird unerträglich schmerzhaft und beängstigend. Ein Mensch ohne grundlegende Selbstachtung verhält sich deshalb so, weil er chronische, unaufhörliche und letztlich erfolgreiche Angriffe auf sein Gutsein als Person erlebt hat. Mit der Zeit schwebt er über einem bodenlos tiefen Pool toxischer Scham, Schuld, Selbstanklage und endloser Qual – wahrlich das Höllenfeuer schlechthin.
Tatsächlich mag in den schlimmsten Fällen die Absicht bestehen, diesen Menschen der Hölle zu übergeben. Ewige Bestrafung für vergangene Vergehen gegen die Autorität, die meint verurteilen zu können. Abhängig von unserem Glauben mögen wir die Hölle als »Butzemann-Phänomen« verstehen, erschaffen, um Menschen zu erschrecken und zu kontrollieren, die gar nichts Unrechtes getan haben. Ich lebe selbst in der Hölle und auch meine klinische Forschung zu diesem Thema legt noch eine andere Sichtweise nahe.
Meiner Meinung nach hängen Rachsucht und das Bedürfnis zusammen, das Erlittene in Beziehung zu der Person, die uns geschädigt und dominiert hat, quasi wieder auszugleichen. Unbedingt wollen wir wieder Gleichheit herstellen zwischen uns und der Person, die uns verletzt und uns das Gefühl von Unterlegenheit vermittelt hat. Falls keine andere Reparaturmöglichkeit besteht, reparieren wir die Beschädigung unseres Selbstwertes, indem wir versuchen, im Anderen genau die Gefühle zu erzeugen, die diese Person in uns erzeugt hat. Wenn alle Versuche die Selbstachtung wiederherzustellen dauerhaft scheitern, folgt eine hasserfüllte Verbitterung. Ohne eine Chance diejenigen zu bestrafen, die uns entwertet, beschämt und erniedrigt haben, wird nach jemand anderem gesucht, der für die zugefügte Verwüstung bezahlen soll.
In den pathologischsten Familien wird das abhängige Kind das Objekt frustrierter, verzerrter Bestrebungen der Eltern. Jemand muss für das Leiden, das die Eltern belastet, für die Misshandlungen, die sie ertrugen, bezahlen (dies ist dem Rachebedürfnis zuzuschreiben). Die Unfähigkeit eines Elternteils, effektiv in der menschlichen Realität zu funktionieren, beschränkt ihn darauf, sich auf das Kind nur als Täter, als die vermeintliche Ursache des elterlichen Leids, zu beziehen. Das Kind für die wahrgenommene Verdorbenheit und seine Böswilligkeit in die Hölle zu schicken, ist Entlastung für das verzweifelte elterliche Bedürfnis, dass jemand dazu gebracht werden sollte, für all die widerfahrene Ungerechtigkeit und all das Leid, das ihnen angetan wurde, zu bezahlen. Jemand sollte beschämt werden, sollte deshalb darauf reduziert werden, sich für genau das schlecht zu fühlen, was den Eltern zugefügt wurde. Rache und Wiederherstellung des eigenen Selbstwertes werden gebraucht, um die Scham und die Demütigung, die das elterliche Innenleben durchdringen, zu mildern. Das unreife Kind, das für den Aufbau seines Selbstbildes vom Urteil der Erwachsenen abhängt, ist das einzig verfügbare Objekt für diese Gefühle.
Vor Scham buchstäblich zu brennen ist die somatische Manifestation einer Verdammung in die Hölle. Ist die Situation, die diese Gefühle hervorruft, vorübergehend, und können die Übergriffe, die auf eine Person einwirken, ausgeglichen, die Beschädigung repariert werden, werden die Feuer gelöscht und nur eine Rest-Erinnerung an das Geschehen bleibt zurück. Aber wird ein Kind wegen der Leiden, die ein Erwachsener erfahren hat, zum Leben in der Hölle verdammt, gibt es keinen Ausweg aus ihr. Das Brennen wird internalisiert und bleibt für immer bestehen.
Der Dichter erzählt uns von der Inschrift über dem Eingang zur Hölle: Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren. Darin ist eine bedeutsame klinische Wahrheit enthalten. Wie in den Darstellungen in der Malerei Boschs, sind alle zum Leben in der Hölle Verdammten konstanter Qual ausgesetzt. Gelingt es einem Menschen nicht, den Fall in den Abgrund des Selbsthasses zu vermeiden, der ein grundlegender Bestandteil dieser Hölle ist, kann der unerträgliche Schmerz und die Hoffnungslosigkeit, davon je erlöst zu werden, einen Menschen in den Suizid treiben. Um katastrophale Schwächung und einen Kollaps zu verhindern, könnte es auch sein, dass als Alternative zum Suizid verzweifelte Anstrengungen unternommen werden, durch das Aufblähen des eigenen Selbst über dem Abgrund zu bleiben. Sämtliche vorhandene Energie wird darauf verwandt aufgebläht zu bleiben – egal was es das eigene Selbst oder Andere kostet.
Diese Schutzmaßnahmen gegen katastrophale Ego-Entwertung und die damit einhergehenden Schamgefühle resultieren in Einstellungen und Verhaltensweisen, die wir als narzisstische Abwehr bezeichnen. Fehlt die gesunde Selbstachtung, entwickelt die Person Reaktionen, um die inneren Gefühle von Wertlosigkeit in Schach zu halten, um den demütigenden und beschämenden Angriffen von außen zu begegnen. Diese defensiv-aggressiven Einstellungen schließen Gefühle von Überlegenheit, Allwissenheit, Zynismus, Spott, Verachtung, Verunglimpfung und ähnliches mit ein.
Eine der schrecklichsten Verdrehungen in dieser fürchterlichen Situation ist, dass das Kind, das nun wehrloses Objekt der Anklage ist, genau zu diesem wütenden, hasserfüllten und boshaften Wesen wird, das die Eltern ihm vorwerfen zu sein. Das ist zumindest genau das, was mir passiert ist. Das schmälert noch nachhaltiger die Fähigkeit, für seine eignen Belange zu kämpfen, für sich selbst einzutreten – bis hin zu dem Punkt, an dem dies nicht reversibel ist. Jeder Protest gegen die Ungerechtigkeit, als schlecht angesehen zu werden, wird zumindest unbewusst leider ebenso begleitet von der Überzeugung, dass die Beschuldigungen wahr und korrekt sind. Der Ursprung der böswilligen Gefühle bleibt verborgen. Die Gefühle selbst können nicht verleugnet werden. Die Verdammung zur Hölle ist nun sowohl durch die Anklagen besiegelt als auch durch die Missbilligungen durch die Autoritäten, wie durch die eigene Kenntnis der inneren Verwandlung zur Boshaftigkeit, die sich bereits vollzogen hat.
Wie bereits erwähnt, ist die Geschichte menschlichen Denkens, spiritueller Suche, politischer Theorie und psychologischer Untersuchungen häufig von der Dringlichkeit, menschliche Destruktivität zu verstehen, durchdrungen. Ist der Drang zu zerstören, zu schädigen, Leid zu verursachen, Schmerz zuzufügen, zu dominieren und auszubeuten Bestandteil der menschlichen Spezies? Oder sind diese Impulse Phänomene eines Zusammenbruchs, dadurch verursacht, dass gesunde, konstruktive Bedürfnisse und Triebe während der kindlichen Entwicklung durch unempathische, lieblose, oder gar verletzende und grausame Erwachsene hintertrieben oder verzerrt wurden? Es macht einen großen Unterschied, welche Position als wahr angesehen wird. Ein zentraler Punkt in der Entwicklung moderner Psychotherapie ist das Bemühen, neurotische Schuld, Schuld und Scham, die durch die Anstrengungen – absichtlich, aber größtenteils unbewusst – entstanden sind, Mitmenschen zu bestrafen und zu kontrollieren, zu identifizieren und abzumildern. Ob überhaupt und wie dies vollbracht werden kann, ist Frage endloser Studien. Welche Rolle der Therapeut dabei spielt, hängt wesentlich davon ab, was er bewusst oder unbewusst über diese Frage menschlichen Seins glaubt.
Chronische, ungemilderte Schamgefühle sind unerträglich und benötigen die Bildung von Verteidigungsmaßnahmen. Diese schützen sowohl vor weiterem Eindringen von Schamattacken von außen als auch vor Wellen von Selbsthass und Selbstverurteilung aus dem eigenen Inneren. Einen profunden Einblick in die Struktur dieser Schutzmaßnahmen bietet die Figur des Homer Simpsons in der amerikanischen Zeichentrickserie Die Simpsons.
In einer Episode nähern sich Homer, einem durch und durch degenerierten, ehrlosen Mann, Ehemann und Vater, Aliens, die die Erde mit dem Plan überfallen, dessen Ressourcen auszubeuten. Ihre Methode der Einschüchterung und Unterwerfung der Erdbevölkerung besteht darin, dreist zu behaupten, dass sie es seien, die eigentlich hierher gehörten, und denen eigentlich die Erde gehöre und zudem die Menschen zu befragen, was sie sich am meisten wünschen würden. Antworten die Menschen, gewähren die Aliens ihnen diese Wünsche, um sie dann wegen ihrer Schwäche und moralischen Verworfenheit zu verspotten und zu verunglimpfen. Sie seien feige, rückgratlose Personen, ohne Prinzipien und einzig durch ihre Sehnsüchte getrieben. Dies ist eine sehr effektive Methode. Einer nach dem anderen geben die Erdbewohner nach. Zusammengebrochen, ohne Selbstwert, unterwerfen sie sich der Besitzergreifung durch die Aliens. Dann kommen die Aliens zu Homer. Als sie ihn fragen, was er sich wünsche, antwortet er wie immer: »Bier und Donuts.« Nach der Erfüllung dieser Wünsche wird er erneut gefragt und antwortet dasselbe. Danach beginnt der Angriff auf seine Selbstwertgefühle. Er wird als selbstsüchtig, korrupt und geistig minderbemittelt bezeichnet. Es gibt eine lange dramatische Pause, während die Aliens darauf warten, dass Homers Schreck über diese Einschätzung einsetzt.
Dies ist eine brillante Beschreibung eines der grundlegenden Elemente bei der Besitzergreifung einer Person durch eine andere. Dies geschieht die ganze Zeit bei der Entwicklung narzisstischer Deformationen in Kindern. Grundbedürfnisse, die die Eltern in einem Moment akzeptieren und ermutigen, werden im nächsten Moment zu Anzeichen kindlicher Verdorbenheit und ihrer angeblich ausbeuterischen Verhaltensweisen. Das Kind kann die Existenz seiner Bedürfnisse und Sehnsüchte nicht leugnen. So verfehlt die Verurteilung dieser Gefühle nicht ihre Wirkung. Werden die Gefühle erst einmal als Zeichen eigentlicher Verdorbenheit des Kindes definiert, ist Scham unvermeidlich.
Die Entblößung als genusssüchtig, prinzipienlos, wie die Aliens in dieser Episode die Erdbewohner bezeichnen, macht Menschen empfänglich für Beherrschung. Ihre Selbstachtung ist zusammengebrochen und sie sind bereit, der fremden Macht die Definition ihrer eigenen Tugend und ihrer Rechtschaffenheit zu überlassen. Die Aliens haben nun die Herrschaft über das Selbstkonzept der Menschen und können sie nun von innen kontrollieren.
Indem Homer seinen Herzenswunsch nach Bier und Donuts ausdrückt, setzt er sich dem Spott und der Verunglimpfung aus. Dies führt normalerweise zu Scham, Unterwerfung und einem Rückzug nach innen, zudem zu einem Gefühl, in der Hölle der Selbstanklage und Verachtung zu verbrennen, hervorgerufen dadurch, wie Andere ihn wahrnehmen, und auch durch sein Versagen, nach seinen eigenen Standards von Rechtschaffenheit und Selbstachtung zu leben. Dies sollte eigentlich zum Zusammenbruch von Homers Selbstwertgefühl, seiner Fähigkeit zur Selbstbeherrschung, zur Übergabe seines Willens und seiner Besitztümer an die Aliens führen.
Aber seine Antwort auf diese Beschuldigung, gierig, moralisch bestechlich und selbstbezogen zu sein, besteht lediglich darin zu sagen, »ja, ihr habt mich ertappt« (»yep, you got me there«). Er bestätigt quasi die Wahrnehmung, genauso zu sein wie er beschrieben wurde. Er ist keineswegs entsetzt und durch die Zerschlagung seines Selbstbildes zerbrochen. In diesem Moment wird Homer unempfindlich für die zerstörenden Auswirkungen dieser Anklagen. Er scheint keinerlei Erwartungen zu haben anders zu sein. Während dies ihn zu einem jämmerlichen Charakter als Person und als Vater einstuft, macht es ihn unempfänglich für Abwertung und die Hinterfragung seiner selbst. Es macht ihn außerdem immun gegen die Verletzungen durch einen Anderen, der behauptet, ihn als wahrlich verabscheuungswürdige und verachtenswerte Persönlichkeit zu sehen.
Ein Mensch, der die in dieser Falldarstellung beschriebene Verteidigungsstrategie benutzt, macht sich dadurch unempfänglich für Beherrschung, dass er sich nicht um das Urteil anderer kümmert. Diese Strategie kann sich auf der Verhaltensebene in vielfacher Weise manifestieren. Gemeinsam ist allen der Glaube, Anderen in jeglicher Hinsicht überlegen zu sein – eine bewusste oder unbewusste Überzeugung. Aber wie wir im Falle Homers sehen, ist diese Schutzmaßnahme ein Drahtseilakt. Dieser Mensch hängt über einer Jauchegrube hasserfüllter Selbstbeschuldigung, Ego-Herabsetzung und schrecklichem Selbsthass. Scheitert seine Abwehr, folgt ein katastrophaler Zusammenbruch des Selbstwertgefühls, der nicht ertragen werden kann. Homer gelingt es den Angriff abzuwehren, indem er seine Zügellosigkeit akzeptiert. Er handelt dabei ohne Bewusstsein darüber und offenbar ohne jegliches Interesse an den Auswirkungen seiner Unempfänglichkeit für die Art und Weise, wie Andere ihn beurteilen.
Das Knochengerüst eines rein theoretischen Verständnisses von Schamgefühlen und ihrer Beziehung zu Destruktivität braucht das Fleisch klinischen Materials, um das Bild in Form gelebter Erfahrungen zu vervollständigen. Wie bei so vielen Studien menschlichen Leidens profitieren Kliniker von der Untersuchung der schwersten Formen dieser Beschädigung. Im Falle der Scham kommt das überzeugendste Material von meinem Verständnis meiner selbst und meiner Arbeit mit meinen Klienten. Dies will ich in diesem Artikel nutzen, um das bisher vorgestellte Material zu beleuchten und darüber hinaus psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten von Klienten zu untersuchen, deren pathologische Schamgefühle ein zentrales Element ihrer Persönlichkeit und ihrer Erfahrung sind.
Ohne ein beständiges tragfähiges Selbstwertgefühl wird Scham unerträglich und unbehandelbar. Die somato-psychischen Schamzustände reiben am Kern des ungeschützten Selbst. Ein literarisches Beispiel wird in dem Roman A Little Life von Hanya Yanagihara (2015) in erschreckender Weise dargestellt. Der Protagonist ist ein intelligenter, komplexer Mensch. Die Scham, die von frühem sexuellen Missbrauch und anderen Misshandlungen herrührt, durchzieht sein Leben und kann nicht durch die Liebe und Fürsorge anderer Menschen gelindert werden. Weder diese Beziehungen noch seine Erfolge als Person können wiederaufbauen, was in ihm zerstört wurde: Die Fähigkeit sich selbst positiv zu betrachten und dadurch die wahrgenommene Scham und den Selbsthass niederzuringen. In der Psychotherapie ist es für uns Therapeuten, aber auch für die Klienten qualvoll, wenn berichtet wird, dass es niemals gelang, diese innere Wirklichkeit und deren Ursprünge mit jemandem zu teilen.
Ich kann ihnen versichern, dass allein das Teilen dieser inneren Wirklichkeit mit Menschen, die sich dafür interessieren und es nachempfinden können, nicht genügt, um eine solche Beschädigung des Selbst zu heilen. Persönlichkeitsstrukturierung angesichts der Zerstörung gesunden narzisstischen Funktionierens zu verstehen, führt uns in die Erlebniswelt schizophrener Menschen und Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeit. In dieser Realität wird überwältigende Scham im Kind hervorgerufen, bevor irgendeine der narzisstischen Funktionen stabil verankert wurde. Scham ist ein wesentliches Element in einer Folge von unaushaltbaren und nicht zu verarbeitenden Zuständen, von psychotischen Gefühlen jenseits des Erträglichen. Um die Herausforderungen psychotherapeutischer Behandlung unter diesen Bedingungen zu verstehen, ist es erforderlich, Scham im größeren Zusammenhang der profunden Schädigung der Persönlichkeit zu sehen, sowie gleichermaßen die Veränderungen, die unter diesen Voraussetzungen auftreten, mit einzubeziehen.
In meinem Fall ist die tiefgreifende Scham unter anderem mit äußerstem Schrecken gepaart. Diese beiden Zustände sind miteinander verflochten und die Funktionen, die benötigt werden, mit jedem dieser Zustände zurechtzukommen, hängen miteinander zusammen und werden durch die jeweiligen erlebten Erfahrungen in Mitleidenschaft gezogen. 2013 fuhr ich auf ein Box-Camp. Seit mehr als 20 Jahren trainiere ich als Boxer, bin aber niemals in den Ring gestiegen. Am letzten Abend fanden Boxrunden statt, gedacht als Trainingsmatches zwischen Kämpfern, die entsprechend ihrer Größe, ihres Gewichtes und in meinem Fall auch entsprechend des Alters zusammengestellt wurden. Zwei Runden. Als ich nach der ersten Runde zu meiner Ecke zurückkehrte, war ich erfüllt von blankem Entsetzen, so intensiv, dass alles um mich herum verschwand – es verzehrte und zerstörte mich. Mit dem letzten mir verbliebenen Bewusstsein konnte ich mir nicht vorstellen, wie ich zur zweiten Runde antreten sollte. Ich hatte bereits kataleptische Erfahrungen gehabt, in denen mein Körper vollständig kollabiert war. Sehr wenige allerdings, denn ich schütze mich rigoros davor, dass dies passiert.
Da ich nun so viele Ressourcen in meinem Leben aufgebaut habe, warf ich mich dieses Mal tatsächlich in den Ring zurück. Ich fühlte förmlich, wie mich mein Rücken ins Ringzentrum schob. Trotz der mich antreibenden Kräfte bin ich mir der kontinuierlichen Erfahrung sehr bewusst, vor Schreck wie gelähmt zu sein. Ebenso bin ich mir der Scham bewusst, die damit verbunden ist, vom eigenen Körper verraten zu werden, nicht kämpfen zu können, wenn genau das gefragt ist. Und ich bin mir meiner Feigheit höchst bewusst und der Enttäuschung in mir, dass ich mich nicht zusammenreißen und kämpfen kann, wenn ich es doch müsste und wenn ich es als Kind hätte tun müssen. Schreck und Scham konvergieren in einem Vakuum so ganz ohne externe positive, bewundernde, wertschätzende Gefühle und zerstören so das Potenzial für die Entwicklung von Selbstachtung.
Aber die Zerstörung positiver Selbsteinschätzung und damit jeglichen Bollwerks gegen die lähmende Scham ist nicht nur ein Defizit, eine Abwesenheit von etwas. Es findet auch ein verstärkender Prozess statt. Ein Ergebnis davon ist die Tatsache, dass ich, als ich das vierte Lebensjahr endlich erreicht hatte, meine Mutter im Schlaf hätte ermorden wollen, wenn ich nur gekonnt hätte, um zu meinem Vater entkommen zu können. Dies ist nicht nur eine Metapher, um zu zeigen, wie wütend und hasserfüllt ich war. Es ist ein transformativer Prozess, in dem mein inneres Wesen verändert wurde. Ganz allmählich wurde ich von meinem Vater gerettet, der sehr charismatisch war, und mit dem ich geradezu verschmolzen war. Er war ein durch und durch korrupter Mensch, der überzeugt war, dass das, was er fühlte und glaubte, wirklich korrekt sei und all seine Handlungen, die diesem Wissen entsprangen, eigentlich berechtigt und unanfechtbar seien.
Der Zustand des Entsetzens, den ich erlebte, ist eng verbunden mit dem Wesen meiner Mutter und der Wirklichkeit, in der sie lebte – voller Verzweiflung und Leere jenseits jeglicher Beschreibung. Letztlich bin ich dazu gekommen, es als die absolute Ausweglosigkeit zu bezeichnen. Dort gibt es nichts, kein Leben, keine Schönheit, kein Wohlwollen, keine Freude. Die Böswilligkeit, der ich ausgesetzt war, ist im Wesen und in den Lebenserfahrungen meiner Eltern begründet. Sie durchtränkte und transformierte mich. In dieser Böswilligkeit sind Hass und Sadismus, ätzende Verachtung und Überlegenheitsgefühle mit inbegriffen – ein Gefühl von Grandiosität, mit der es nur das Gefühl aufnehmen kann, Gott selbst zu sein. Ist man von dieser Boshaftigkeit durchdrungen, wird man vom Zugang zu Güte und Wohlwollen abgeschnitten. Die Hauptfigur im Roman A Little Life kann damit nicht umgehen.
Ich kann damit nicht umgehen. Speziell im Hinblick auf Scham und angesichts meines tiefverankerten und krankhaften Konkurrenzdenkens, der beißenden ungemilderten Verachtung, des gnadenlosen Hasses und der Rachsucht findet sich in meiner Wirklichkeit kein Gegengewicht etwa durch Liebe, Freundlichkeit oder Respekt. Ich sehe mich wie ich bin und habe mich niemandem gegenüber so klar genauso verhalten wie gegenüber meiner ersten, kürzlich verstorbenen Ehefrau. An ihr sah ich, was eine solche Behandlung anrichten kann. Aber die Zerstörung aller Liebesgefühle in mir machte es ihr nicht unmöglich mich zu lieben. Mit ihrer Liebe und Fürsorge und der anderer Menschen baute ich eine Version meiner selbst auf, die besser zu dem passte, was ich gelernt hatte und woran ich glaubte – ein Leben, dessen ich mich nicht schämen musste.
Wie bei anderen Fällen zeigt auch hier die schlimmste Beschädigung, was bei weniger schlimmen Fällen getan werden kann. Meine Erforschung menschlichen Seins hat mich zu dem Schluss geführt, dass Menschen für ihr psychisches und emotionales Überleben den Glauben benötigen, dass diejenigen, die sie geschädigt haben, allmählich für das Leiden, das sie uns angetan haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Bedauerlicherweise sind für so viele von uns die einzigen Menschen, die zum Leben in der Hölle verdammt werden, die Kinder, deren Eltern es für ihre Entlastung brauchen, jemanden in die Hölle zu schicken. Der Möglichkeit beraubt, die Täter für ihr Leiden verantwortlich zu machen, schreiben unzählige Eltern unbewusst diese Rolle ihren Kindern zu, greifen sie an und quälen sie. Im Extrem sieht diese Kindheit so ähnlich aus wie eine psychische, emotionale und natürlich häufig auch physische Version von Boschs Malerei.
Diese Hölle wird in somato-psychischer Form und im Charakter strukturiert, wie es sicherlich immer bei verdrängten Gefühlen und unterdrückten Impulsen üblich ist.
Die tiefen Auswirkungen chronischer Unterwürfigkeit werden zu gewohnheitsmäßigen Körperhaltungen und zu Verhaltensdispositionen. Die unerträglichen Flammen von Beschämung und Erniedrigungen werden zu Selbsthass und Selbstverleumdung. Sie setzen Magen, Lunge und Bindegewebe durch die Qual der Bestrafung für die zugeschriebenen Sünden, die angeblich begangen wurden, quasi in Brand.
Bioenergetische Vorgehensweisen bieten starke Ausdrucksmittel für Protest, für Widerstand gegen auferlegte Verurteilung und Feindseligkeit. Sie bieten ebenfalls Protestmöglichkeiten gegen die erfahrene destruktive Beschämung. Aber diese Methoden allein sind nicht ausreichend. Das zentrale Vorhaben in der Psychotherapie schließt eine Konfrontation mit dem eigenen Selbst – ohne den Filter rationalisierender Abwehr – mit ein. Fehlt dies, besteht keine Hoffnung auf Integration und Integrität. Psychotherapie in ihren modernen Ausprägungen entstand aus der ewigen Erforschung, wie man menschliche Destruktivität verstehen und in Schach halten kann. In den letzten Jahren hat sich in zunehmendem Maße herauskristallisiert, dass die Hoffnung vor allem darauf basiert, dass Empathie und ein Nachempfinden der Erfahrungen Anderer zu Sympathie und der Anerkennung gemeinsamer Menschlichkeit führen könnte. Internalisierte Werte wie Mitgefühl und Fürsorge würden zu einer Abschwächung destruktiver Handlungen beitragen. Ohne dies wäre die Angst vor permanenten Schamgefühlen das einzige Abschreckungsmittel gegen die internalisierte Destruktivität.
Hinsichtlich eines ausreichenden Schutzes vor Destruktivität versagen jedoch beide Methoden darin, eine Sicherheit für die Zukunft meiner Kinder und Enkelkinder zu bieten. Immer wieder sehen wir, wie Beschämung für zerstörerische Zwecke missbraucht wird – für Kontrolle, Unterjochung und um Menschen für Misshandlungen und Ausbeutung gefügig zu machen. Wie kann die eigene Destruktivität ohne eine gewisse Auseinandersetzung damit, ohne die Verantwortung dafür zu übernehmen und ohne deshalb zumindest ein geringes Schuldgefühl zu haben, gezügelt werden?
Und wenn wir als Psychotherapeuten mit Personen arbeiten, die für die Hölle bestimmt sind, was sollen wir tun? Und was sollten diese Menschen tun? In meinem Fall ist die Lösung des Problems, in der Hölle zu leben, in dem Maße, wie sie überhaupt existiert, diese Wirklichkeit anzunehmen. Sie so vollständig zu leben wie ich nur kann. Akzeptieren, nicht verzeihen, nicht resignieren. Indem ich mir diese Wirklichkeit eingestehe, kann ich andere Versionen meines Selbst als diese Kernversion ausbilden. Ich kann nach Werten leben, die nicht den korrupten, paranoiden und egoistischen Werten meiner Eltern entstammen. Was immer sie mir an Positivem mitgaben, kann ich den immensen Geschenken hinzufügen, die die Menschen, die mich lieben, mir machen, Therapeuten mit eingeschlossen. Was ich nicht tun kann, ist die fortwährende Wahrheit zu verleugnen, was es heißt, in der ständigen Realität der absoluten Ausweglosigkeit und der Transformation hin zu Boshaftigkeit zu leben.
Was wir alle, Therapeuten und alle Anderen tun können, ist Zeugen dieser Wahrheiten zu sein, wie sie im Leben unserer Klienten, unserer Freunde und in der Gesellschaft um uns herum gelebt werden. Erinnern wir uns daran, dass die in der Bibel beschriebene Scham nichts mit Sexualität zu tun hat. Es geht vielmehr um das Thema der Selbsterkenntnis, um das Streben nach göttlichem Wissen, das uns ins Zentrum unserer Existenz stellt. Scham in ihren zerstörerischen, verdammenden und auch in ihren konstruktiven und korrigierenden Aspekten anzunehmen, könnte uns dazu befähigen, Möglichkeiten zu finden, uns einander mitzuteilen und uns in einer ehrlichen Einschätzung von uns selbst und unseren Mitmenschen zu unterstützen.
Bei der Gedenkfeier für Al Lowen ermutigte George Downing uns, noch einmal gründlich Al Lowens Schriften zu lesen. Er versicherte uns, dass es darin weit mehr zu entdecken gäbe als bei oberflächlicher Betrachtung sichtbar würde. In meinem Verständnis von Lowens (1975), und von Wilhelm Reichs (1962) Werken sahen beide die Verbindung von Freude und Freundlichkeit, die die Autoren der Monografie über Modern Bioenergetics (2011) nun noch ausführlicher erforschen. Wir alle stellen immer wieder, mehr oder weniger bewusst, den zentralen Zusammenhang her: Wenn wir die Fähigkeit haben, eine positive Selbsteinschätzung mit dem Wohlwollen des Universums zu verbinden, kann uns dies davor schützen, uns in aggressiver Weise gegen uns selbst zu wenden. Ein Verhalten, dass ein wesentlicher Faktor beim unheilvollen Gebrauch von Scham ist. Haben Menschen eine tief im Inneren verankerte Erfahrung von Güte und Freundlichkeit, ist es schwer ihnen vorzuschreiben, was sie zu tun, zu denken und zu fühlen haben.
Wie ich bereits an anderer Stelle schrieb, leben die hier dargestellten, für die Hölle bestimmten Personen häufig in einer Realität ohne Verbindung zu Wohlwollen und Güte. Welchen Trost kann es ohne diese Verbindung geben, welche unsere alles durchdringende Feindseligkeit und Scham mäßigen könnte? Ich beende diesen Artikel mit einem Zitat meines langjährigen Therapeuten. Es schildert die meiner Meinung nach oft unterschätzten, weitreichenden Auswirkungen auf sehr bestärkende anteilnehmende Weise Zeuge dieser Realität zu sein. Ebenso unterstreicht das Zitat die Anforderungen an den Therapeuten, der bereit ist, mit jemandem in dieser Hölle zu leben.
Hier ein kleines Beispiel: Es handelt von einem Mann, über den ich in »Toxic Nourishment and Damaged Bonds« schrieb. Ich nannte ihn dort Milton. Er ist ein Mann, der sein ganzes Leben mit Schmerzen verbringt; Schmerzen, die nicht verschwinden wollen. Ich weiß nicht, ob sie jemals verschwinden werden oder nicht. Ich habe keine Ahnung und er genauso wenig. Er würde Suizid begehen, wären da nicht – ich bin nicht so sicher – vielleicht seine Kinder, vielleicht noch etwas darüber hinaus, eine Art tiefe Zuneigung zur Wahrheit des Lebens, zu seiner Wahrheit. Er hat sich der inneren Wahrhaftigkeit verschrieben. Seit vielen Jahren sind wir zusammen und davor war er bereits noch viel mehr Jahre bei anderen Therapeuten in Behandlung. Er versucht Kontakt herzustellen – zu sich selbst, zum Leben. Er widmet sich ganz seiner Suche. Fähig zu sein wenigstens in seiner Suche präsent zu sein, jedoch nicht im Leben ist immerhin schon etwas Positives. Für einige Menschen mag es besser sein, sich die eigene Nicht-Anwesenheit im Leben bewusst zu machen, als nicht anwesend zu sein und es nicht einmal zu wissen. Für Milton ist dies geradezu ein Muss. Vor ein paar Wochen sagte er: »Ich fühle, dass mein Vater mich, oder zumindest Teile von mir, umgebracht hat.« Und ich antwortete, dass ich ihm das absolut glauben würde. Und dann weinte er. Nach langem Schweigen sagte er: »Als ich Deine Worte hörte, fühlte ich, wie ein Wesen mich verließ.« Dies ist die kleine Fallgeschichte. Er ist noch nicht geheilt, ich bin noch nicht geheilt. Ich habe Schmerzen, er hat Schmerzen. Ich bin gebrochen, er ist gebrochen. Aber diesen Moment, diesen einen kleinen Moment zu finden, als er fühlte, tatsächlich fühlte, dauerte viele Jahre. Diese Jahre waren keineswegs verschwendet. Sie könnten so aussehen. Einige Therapeuten wären nicht dazu in der Lage gewesen dies auszuhalten. Aber diese Jahre waren nicht vergeudet, weil ein Moment kam, als er meinen Glauben an seinen Schmerz spürte. Für einen Augenblick glaubte er, dass ich wirklich überzeugt war, dass er Schmerzen hatte und, dass diese permanent sein könnten. Er hörte mich und fühlte für einen Moment meine Bestätigung seiner Gefühle als wahrhaftig. Was von mir zu ihm durchdrang, war: »Ja, ich glaube dir wirklich absolut.« Und er wiederholte seine Äußerung:« Als ich dich hörte, als ich deine Worte hörte, fühlte ich, wie ein Wesen mich verließ. Nun weiß ich, dass wenn ein Wesen weggeht, es wahrscheinlich noch eine Million weiterer Wesen gibt. Aber es war ein wertvoller Moment, der Jahre brauchte, um stattzufinden. Keine Versicherung würde für diesen Moment bezahlen. Aber es ist ein Moment für die Ewigkeit. Ein Moment, der für immer für das Universum einen Unterschied macht. Und einige von euch mögen noch heute die Wellenbewegungen davon wahrnehmen (Eigen, 2010, S. 18f.).
Übersetzung: Wera Fauser
Baum, S., Guze, V., Hall, D., Madden, A., Panvini, R., Rhoads, E., Schneider, J., Silberstein, J. & Tucillo, E. (2011). Modern Bioenergetics: an integrative approach to psychotherapy. New York: New York Society for Bioenergetic Analysis.
Bloom, P. (2013). Just Babies: The Origins of Good and Evil. New York: Broadway Books.
Eigen, M. (2010). Madness and Murder. London: Karnac Books.
Goldberg, C. (1991). Understanding Shame. Northvale, NJ: Jason Aronson Inc.
Lowen, A. (1975). Bioenergetics. New York: Coward, McCann, & Georghegan.
Morrison, A. (1989). Shame, the Underside of Narcissism. Hillsdale, NJ: The Analytic Press.
Reich, W. (1962). The Sexual Revolution. New York: Noonday Press.
Sartre, J.-P. (1984). Being and Nothingness. New York: Washington Square Press.
Scott Baum, Dr., ABPP, ist Mitglied der IIBA Faculty und lebt und praktiziert als klinischer Psychologe in New York City, USA.