Zurückhaltung1 versus Scham

Identitätsbildung durch Natur, persönliche Geschichte und Kultur

Rosaria Filoni

Bioenergetic Analysis • The Clinical Journal of the IIBA, 2019 (29) DE, 11–22

https://doi.org/10.30820/0743-4804-2019-29-DE-11 CC BY-NC-ND 4.0 www.bioenergetic-analysis.com

Zusammenfassung

Die Autorin widmet sich dem Thema Zurückhaltung, indem sie zunächst auf einen Artikel von Alexander Lowen (IIBA Newsletter, 1994) und anschließend auf einen Artikel des Philosophen und Jungschen Analytikers Umberto Galimberti eingeht. Lowen spricht von Zurückhaltung als »natürlichem Stolz« (»natural pride«), als dem Ausdruck für das Maß an Selbstwahrnehmung und Selbstwertgefühl einer Person. Dieser natürliche Stolz verrät die Fähigkeit des Individuums, seine Gefühle zu beherrschen, und liefert damit einen Hinweis auf seine Befähigung, auch eine starke sexuelle Ladung zu halten. Für Galimberti drückt der Mensch, der Körper und Individualität besitzt, mit dem Begriff Zurückhaltung (»modesty«) die Dialektik zwischen dem Ego des Menschen und seiner animalischen Seite aus, den beiden Dimensionen, die als wesentliche Bestandteile die Person ausmachen und sie zugleich zerreißen. In jeder dieser Dimensionen wirken zwei Subjektivitäten: eine, die »Ich« sagt und mit der wir uns gewöhnlich identifizieren, und eine andere, die uns als »Vertreter unserer Spezies« versteht, deren Fortbestand sie sichern. Galimberti zufolge schränkt Zurückhaltung Sexualität nicht ein, sondern personalisiert sie. Anschließend reflektiert die Autorin soziale und historische Aspekte von Zurückhaltung im Italien der letzten 50 Jahre.

Stichworte: Zurückhaltung, Scham, Körper, Mythen

Einleitung

Im Jahr 2002 begann ich mich für das Thema Zurückhaltung zu interessieren, nachdem ich in der italienischen Zeitung La Repubblica einen Artikel des Philosophen und Jungschen Analytikers Umberto Galimberti (Galimberti, 2002) gelesen hatte. Er berührte mich, und ich war von seinen Argumenten so überzeugt, dass ich den Artikel fotokopierte. Ich hatte Gelegenheit, ihn einigen Klienten2 vorzulesen sowie in Trainingssitzungen und auf Kongressen darüber zu sprechen. Zu meinem Erstaunen begegnete ich bei meinen Zuhörern mehr als einmal der Schwierigkeit, das Konzept der Zurückhaltung (»modesty«) von dem der Scham zu trennen. Dann begriff ich, dass in einer von Schamlosigkeit und Narzissmus geprägten Zeit die Bedeutung von Zurückhaltung zwangsläufig unklar sein musste. Ich verstand, dass Scham mit Zurückhaltung nicht vereinbar ist, und dass Menschen, die Scham empfinden, höchstwahrscheinlich kein Gespür für Zurückhaltung haben.

Zurückhaltung bei Lowen und Galimberti

In meinem Text zitiere ich einige Passagen aus Galimbertis Artikel sowie Passagen eines Artikels von Lowen, der 1994 in einem IIBA Newsletter veröffentlicht wurde.3 In seinem Artikel mit dem Titel Elogio del Pudore (»In Praise of Modesty«) gleicht Lowens Denken in seiner Struktur dem von Galimberti: Bei beiden findet sich ein hochgradig säkularer Blickwinkel. Bei der Übersetzung von Lowens Artikel ins Italienische kam es durch einen »falschen Freund« zu einem Missverständnis: Das Englische verwendet das Wort »modesty« (Bescheidenheit, Zurückhaltung) im Sinne des italienischen »pudore«, das Wort »modestia« hat dagegen im Italienischen eine andere Bedeutung. Es hat zu tun mit einer »seriösen und würdevollen Zurückhaltung in Kleidung und Verhalten«, die traditionell einer »ehrbaren Frau« zugeschrieben wird, wobei »Ehrbarkeit« bedeutet, für eine Rolle erzogen zu sein – auf patriarchalische Weise, würde ich sagen –, die für eine Frau als angemessen erachtet wurde. Die Artikel von Lowen und Galimberti verleihen dem Wort »modesty« eine völlig andere Bedeutung. Mit der Verwendung des italienischen »modestia« anstelle von »pudore« wurde der Artikel ziemlich unverständlich. Diese Tatsache wiederum machte mir bewusst, wie schwierig es ist, einen Zugang zum Begriff der Zurückhaltung zu finden.

Galimberti schreibt: »Gott kennt keine Zurückhaltung, weil er keinen Körper hat. Tiere kennen keine Zurückhaltung, weil sie kein Bewusstsein ihrer eigenen Individualität haben. Männer und Frauen, die sowohl Körper als auch Individualität besitzen, drücken mit dem Begriff Zurückhaltung die Dialektik dieser beiden Dimensionen aus, die sie konstituieren und zugleich zerreißen. Jeder von uns hat tatsächlich zwei Subjektivitäten4, eine, die »Ich« sagt – das Ego, mit dem wir uns gewöhnlich identifizieren – und eine, die uns zur Erhaltung der Art zu »Verantwortlichen für die Spezies« macht.

Diese Worte verdeutlichen sofort, dass es sich hier um eine ständig wirksame Dialektik handelt, genau genommen um mehr als nur eine einzige. Vor allem lebt jeder – ob Frau oder Mann – eine eigene »innere« Dialektik zwischen dem Ego und dem »Verantwortlichen für die Spezies«, und in jedem von uns nehmen diese beiden Aspekte unterschiedlich viel Raum ein. Doch diese Dialektik ist auch das Ergebnis der persönlichen Geschichte, beeinflusst durch Generationen umspannende Überlieferung, die jeweilige politisch-soziale Situation und den historischen Augenblick.

Überdies verfügt dieser »Verantwortliche für die Spezies« mit dem Ziel der Erhaltung der Art lediglich über zwei verschiedene Formen des Selbstausdrucks – das Maskuline und das Feminine. Das Maskuline muss zur Fortpflanzung eine Frau »gebrauchen« und zur gesicherten Reproduktion für eine maximale Verbreitung seines Samens sorgen. Wie Professor Zoja in ihrem Buch Centauri (2016) darlegt, hat das Maskuline naturgemäß eine Aggressivität, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Vergessen wir nicht, dass der Gründungsmythos der Stadt Rom und des römischen Reiches mit dem Raub der Sabinerinnen eine Geschichte von Entführung und Vergewaltigung ist5.

Das andere, das weibliche Geschlecht, muss zur Sicherung seines Fortbestands den »besten« Mann wählen, den gesündesten, der das Heranwachsen von Kindern bestens schützen und fördern kann. Wie Zoja hervorhebt, besitzt die Frau eine angeborene Gabe der Fürsorge und Empfänglichkeit. Doch als Spezies leben wir nicht allein die animalische Dimension, sondern auch die des Egos. Was daher ins Spiel kommt, ist »Liebe, die beide Register unserer Subjektivität zieht, die dafür sorgt, dass es unser – liebendes und geliebtes – Ego ist, das uns zutiefst ausmacht und personalisiert, und das gegen die animalische entpersonalisierte Sexualität die Barriere der Zurückhaltung errichtet.«

»Wenn die Dinge so liegen,« fährt Galimberti fort, »können wir sagen, dass Zurückhaltung jene Befindlichkeit ist, die das Individuum vor der Angst schützt, ins Animalische zu verfallen, und dass wir, indem wir uns zurücknehmen, gezwungen sind, uns selbst als einfache Vertreter unserer Spezies zu verstehen.« Aus dieser Perspektive »trifft es nicht zu, dass Zurückhaltung Sexualität einschränkt; Zurückhaltung personalisiert sie.« Man spricht von der »allgemein geübten Zurückhaltung«, was es notwendig macht, ihr Vorhandensein in ihren historischen und kulturellen Bezugsrahmen einzuordnen. Wenn wir nicht länger nur »Tiere« sind, tritt Geschichte in den Vordergrund.

In Italien waren bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts die Vertreterinnen dessen, was man damals unter weiblicher Sittsamkeit verstand (und in diesem Fall ist das italienische Wort »modestia« zutreffend) die Heilige Maria Goretti, die von ihrem Vergewaltiger getötet wurde, und Manzonis Lucia6. Im ersten Fall (einer wahren Geschichte) wurde das zwölfjährige Mädchen heiliggesprochen, weil es versucht hatte, sich gegen seinen Angreifer zu wehren; diese Wehrhaftigkeit hielt man Mädchen und jungen Frauen als Beispiel vor, allerdings weniger für ein legitimes Persönlichkeitsrecht (in Zeiten des Neofeminismus bezogen wir uns darauf im Sinne der Integrität des weiblichen Körpers) als vielmehr für tugendhaftes Verhalten.

In Italien kennen wir als weiteres Beispiel für weibliche Sittsamkeit und Tugendhaftigkeit die Geschichte der Lucia in I Promessi Sposi (deutsch: Die Brautleute)7, die nicht so sehr um die Anerkennung ihres Rechts kämpft, ihren Renzo zu lieben, sondern darum, ihre Tugend gegen Don Rodrigos Begehren zu verteidigen. Hier geht es um Tugend, um etwas, das mit Moral verbunden ist – eine von Religion beeinflusste Moral – und nicht um den Besitz seiner selbst.

Ein kleiner Exkurs: In Italien ist das Gesetz gegen sexuelle Gewalt noch jüngeren Datums, und es bedurfte umfassender und jahrelanger Mobilisierung durch die Frauenbewegung, damit Vergewaltigung per Gesetz als ein »Verbrechen gegen die Person« und nicht »gegen die Moral« bezeichnet werden konnte. Richtet sich das Vergehen gegen die Person, erkennen wir das individuelle Recht an, richtet es sich gegen die Verletzung der Moral, akzeptieren wir eine Art sozialen oder religiösen Besitzanspruch in Bezug auf die weibliche Tugend.

Wenn wir einmal die Tugend beiseitelassen und uns wieder der Zurückhaltung zuwenden, so können wir feststellen, dass wir es mit einer eminent körperlichen Erfahrung zu tun haben. Wir können sie als eins der Merkmale von Selbstbesitz betrachten, zu dem der bioenergetisch-analytische Prozess den Klienten verhelfen soll. Beide – Selbstbesitz und Zurückhaltung – sind vorhanden, wenn der Körper hinreichend frei ist von Kontraktionen, die seine Bewusstheit schmälern, und wenn der Mensch in seiner Einzigartigkeit gespürt, wahrgenommen und erkannt wird, wenn er wählen kann, was er von seinem Körper zeigen möchte und wem, welche Intimität er mit wem zulassen und was er von sich an welchem Ort und wem gegenüber preisgeben möchte.

Wenn wir uns ein Kontinuum vorstellen, so haben wir an dem einen Ende die Zurückhaltung mit der Selbstwahrnehmung, am anderen die Scham, die pathologische Scham, mit dem Wunsch zu verschwinden, die bisweilen mit Schamlosigkeit daherkommt. In beiden Fällen geht eine starke Empfindung vom Körper aus, die bei Zurückhaltung von Wohlgefühl, Stolz und einer weitgehend guten Selbstwahrnehmung geprägt ist; bei Scham jedoch nimmt man sich als unangenehm wahr und würde sich am liebsten in Luft auflösen.

Auf der Seite der Zurückhaltung haben wir die Fähigkeit zu fühlen, uns auszudrücken, zu wählen; wir haben es mit einem Menschen zu tun, der im Verlauf seiner Entwicklung in genügendem Maße gesehen, geachtet und unterstützt wurde. Auf der anderen Seite, wo es um Scham geht, sehen wir dagegen eine Person, die sich schuldbeladen und fehl am Platz fühlt. Klar ist allerdings, dass nicht allein die persönliche Geschichte die unterschiedlichen Ausprägungen des Selbstgefühls bestimmt, sondern auch die jeweilige historische Periode

Zurückhaltung in der Mythologie

Wie so oft kann die Mythologie uns zu einem besseren Verständnis unseres Themas verhelfen. Artemis, die Göttin der Jagd, ist empört, weil der Jäger Aktaion es gewagt hat, sie heimlich beim Baden zu beobachten, und straft ihn für sein Verhalten. Sie verwandelt ihn in einen Hirsch, sodass er nicht berichten kann, was er gesehen hat, und hetzt seine eigene Hundemeute auf ihn, die ihn in Stücke reißt. Artemis ist stolz, und stolz verteidigt sie ihre Privatheit.

Ich verwende hier den Terminus Privatheit (»privacy«), der wiederholt in Lowens Artikel erscheint. Er steht nicht nur für den Begriff der Intimität, sondern auch für das volle Recht selbst zu bestimmen, was privat bleiben muss. Lowen schreibt in seinem Artikel, dass »der natürliche Stolz das Maß an Selbstwahrnehmung und Selbstachtung einer Person ausdrückt. Er kennzeichnet deren individuelle Fähigkeit, ihre Gefühle zu kontrollieren, und deutet folglich darauf hin, dass sie auch eine starke sexuelle Energie zu beherrschen vermag.«

Wenden wir uns einer biblischen Geschichte zu, so bietet der Anblick von Adam und Eva und ihrer Vertreibung aus dem Garten Eden ein völlig anderes Bild, nämlich eins von Leid und Scham. Mit dem Hinweis auf die Bibelpassage »sie erkannten, dass sie nackt waren und schämten sich« schreibt Lowen, dass diese Scham

»nicht von der Nacktheit ihrer Körper herrührt, sondern von Gottes Blick, der sie nackt macht. Sie waren unbekleidet, doch erst nach jenem Blick wurden sie nackt, verbargen sich daher und flohen. Zurückhaltung schützt den Körper nicht vor seiner Blöße, die den Menschen an seine animalische Verwandtschaft erinnert, sondern davor, dass er zum Objekt degradiert wird, wenn ein auf ihn gerichteter Blick ihn seiner Subjektivität beraubt.«8

Vor dieser Degradierung schützt sich Artemis, indem sie Aktaion vernichtet, während Adam und Eva sich durch den Blick Gottes leidvoll ihrer »Sünde« bewusst werden

Scham

Wenn wir die Mythologie beiseitelassen und uns wieder dem Leben zuwenden, so wissen wir, dass Scham in der menschlichen Entwicklung dann auftaucht, wenn im Entstehen eines Verlangens die damit verbundene energetische Ladung keine Entsprechung in der Intersubjektivität findet. Das Subjekt wird gewissermaßen »nackt« zurückgelassen mit der »Sünde«, etwas Unerhörtes gewollt zu haben: Zu existieren oder – in den Augen der anderen – etwas »Unerlaubtes« begehrt zu haben (Stern, 2011, S. 135). Da es lebensnotwendig ist, die Bindung zu unserem Versorger aufrechtzuerhalten, sehen wir lieber uns selbst als Sünder; wir verlieren den Garten Eden, das heißt die Möglichkeit, uns dem Körper hinzugeben. Wir werden uns unserer selbst und unserer abgelehnten Körper schmerzlich bewusst und geloben erneut, nie wieder jenen Aspekt von uns zu offenbaren, der von unserem Gegenüber missachtet oder getadelt worden ist.

Ich spreche hier von einem beliebigen Entwicklungstrauma, doch denken wir einmal an die Scham von Missbrauchsopfern – auch jener, die man »zwang«, sich für den erlittenen Missbrauch schuldig zu fühlen. Rufen wir uns nur in Erinnerung, nach wie vielen Jahren erst die Überlebenden der Nazi-Konzentrationslager sich mit ihrer Scham auseinandersetzten und begannen, über das Erlebte und Gesehene zu sprechen und es zu bezeugen. Doch bedenken wir auch, wie schwierig es ist, überhaupt von Missbrauch zu berichten. Selbst kleine Kinder, die im Kindergarten geschlagen wurden (es hat kürzlich einige derartige Fälle in Italien gegeben), müssen sich überwinden, bevor sie ihren Eltern von der erduldeten Misshandlung erzählen.

Missbrauch erzeugt Scham: Missbrauchsopfer empfinden Schuld

Im Italienischen wird das Wort »Scham« mit »vergogna« übersetzt. Das Wort »vergogna« geht auf das lateinische »vereor gognam« zurück, was so viel heißt wie »Ich fürchte den Pranger«; in früheren Zeiten bestand Strafe darin, Häftlinge und Kriegsgefangene zur Schau zu stellen, und bisweilen implizierte diese Prozedur deren Nacktheit. Lowen weist darauf hin, dass die Menschen, die an anderen nackt vorbeidefilieren mussten, tiefe Demütigung empfanden. Er führt weiter aus:

»Im Menschen geht die Tendenz sich zu zeigen und den Körper zur Schau zu stellen, einher mit dem Sinn für Zurückhaltung, der auf die Bewusstheit des Egos von der Existenz des Körpers zurückzuführen ist. Menschen sind sich ihres Körpers, insbesondere ihrer sexuellen Natur, in einer Weise bewusst, die sich von der von Kindern und Tieren unterscheidet. Der Mensch hat ein Ego entwickelt, das den Körper als Objekt betrachtet, und er ist sich dessen sexueller Funktion bewusst. Das ist bei Kindern und Tieren nicht der Fall, weil sie gänzlich mit dem Körper identifiziert sind. Beim Menschen ist Zurückhaltung Ausdruck dieser Selbstbewusstheit und zugleich Zeichen für Persönlichkeit und Individualität. […] Privatheit ist eng mit Persönlichkeit verknüpft, welche die tiefsten Gefühle des Menschen verschleiert und ihm ermöglicht, gewisse als intim betrachtete Körperäußerungen zu verbergen. […] Beim Menschen verlangt der Stolz – und zwar mit einem Gespür für Privatheit –, dass die Geschlechtsorgane den Blicken der Öffentlichkeit entzogen werden. Stolz, Privatheit und erwachsene Genitalität gehen Hand in Hand.

Erwachsene Sexualität ist eine kombinierte Funktion von Ego und Körper. Das Ego steigert die sexuelle Erregung, indem es dem Genitalbereich erotische Empfindungen übermittelt und diese Empfindungen an ein bestimmtes Individuum richtet, wobei es die Erregung kontrolliert und sie auf diese Weise bis zu einem Höhepunkt steigen lässt. In kindlichen oder kindheitsgeprägten Verhaltensweisen gibt es weder Stolz noch Intimität, ganz zu schweigen von sexueller Befriedigung.«

Bekanntermaßen kann diese vollständige Hingabe an körperliches Erleben schon früh gestört werden durch Gewalt, sexuelle Belästigung, eine erotisierende Atmosphäre oder sogar das unangebrachte Zur-Schau-Stellen elterlicher Nacktheit. Als Körpertherapeuten fällt uns natürlich zum Beispiel der Anblick erwachsener Frauen auf, die, obwohl sie Röcke tragen, wie Kinder mit gespreizten Beinen sitzen, und wir wissen dann, dass wir auf den Reifegrad ihrer erwachsenen/sexuellen Identität achten sollten.

Lowen spricht über Nudisten und erklärt, dass ihre körperlich-seelische Verfassung der von Kindern ähnelt, wobei die Sexualität in eine Art Hauterotik übergeht, die jedoch keine starke genitale Ladung hat, welche auf Entladung drängen würde. In Italien gibt es eine Fülle von Fernsehsendungen, die auf diesen epidermalen und infantilen Eros setzen; siehe L’isola di Adamo ed Eva, wo nackte junge Frauen einen ebenfalls nackten jungen Mann auf einer Insel treffen und sich eine Art Balz entwickelt. Gleichzeitig wirkt die Nacktheit der Hauptdarsteller in dieser Situation als Negierung jeglicher Erotik. Ein anderes Programm zeigt die Begegnung eines Mannes mit einer Frau – er in Unterwäsche, sie in BH und Slip –, die es sich auf einem Bett bequem machen, einander kennen lernen und versuchen herauszufinden, ob sie einander gefallen.

Die 60er Jahre und der Neofeminismus

Gehen wir weiter zu den 60er Jahren, so erinnern wir uns vielleicht, was junge Männer und Frauen taten, um einen »allgemein gültigen Sinn für Zurückhaltung« zu erkämpfen, freier als der früherer Jahrzehnte: Eine Zurückhaltung als Recht auf den subjektiven Selbstbesitz und zur Überwindung dessen, was in den englischsprachigen Ländern die viktorianische Prüderie und hierzulande der Einfluss der Kirche war. Man proklamierte das Recht auf die Freiheit des Körpers, auf die Herrschaft über unseren eigenen Körper, und die Moderichtungen jener Jahre fanden Wege, den Körper in Szene zu setzen und gleichzeitig seine eher sexuellen Merkmale optisch zu reduzieren.

In jenen Jahren drückten die Mode und das neuartige Verhalten den Wunsch nach Selbstdarstellung aus, was – wenn wir Lowens, aber auch Galimbertis Aussagen betrachten – den Menschen in die Nähe all derjenigen Tierarten rückt, die zu ihrer Fortpflanzung Imponiergehabe zeigen, Selbstdarstellung in einer Art kindlicher Unschuld, welche die eher sexuellen und erwachsenen Züge des weiblichen Körpers minderte zugunsten einer stärkeren sozialen Subjektivität. Es waren die Jahre, in denen in Italien junge Frauen erstmals massenhaft Zugang zu höherer Bildung hatten.

Erinnern Sie sich noch an Unisex-Kleidung? Miniröcke zeigten die Beine, wurden aber mit weißen Strümpfen und flachen Schuhen kombiniert; Make-up schminkte das Gesicht weiß; die Lippen glänzten hell, und das Augen-Make-up war dunkel, mit falschen Wimpern, welche die Proportionen von Kinderaugen evozierten. Ein für jene Jahre symbolisches weibliches Image war das des supermageren Models Twiggy. Heutzutage, da Frauen sich mittels Schönheitschirurgie die Brüste vergrößern lassen, ist es kaum vorstellbar, doch damals zogen es die allzu Fülligen vor, ihren Busen zu verbergen oder sogar zu bandagieren.

Zur Bekämpfung überkommener Einschränkungen schwächte man auf die eine oder andere Weise die Signalwirkung der auffälligsten sexuellen Merkmale ab, und wir präsentierten uns in diesem neuen, freieren, unbefangeneren Erscheinungsbild. Junge Frauen begannen Hosen zu tragen, und allmählich schwanden die altersgerechten Unterschiede in der Art sich zu kleiden. Frauen forderten ihre sexuelle Freiheit als Wahlfreiheit und strebten von Gleichheit und gegenseitiger Unterstützung geprägte Beziehungen zwischen Männern und Frauen an. All dies wurde begleitet von der führenden Rolle der Studentenbewegung, vom Neofeminismus, von einer Gewerkschaftsbewegung, welche die antiautoritären Forderungen arbeitender Männer und Frauen repräsentierte.

Das Ziel dieser antiautoritären Bewegung bestand nicht nur darin, spürbare Verbesserungen wie höhere Löhne oder allgemeine Schulpflicht zu erringen, sondern eine Identität zu erlangen, in der Subjektivität den richtigen Stellenwert hat. Die Frauen entdeckten die Schwesterlichkeit, die Fähigkeit einander zu unterstützen, um Stärke und mehr Rechte und Freiheiten zu gewinnen. In Italien bedeutete dies, mit der Legalisierung der Pille (die lange von der katholischen Kirche bekämpft wurde) das Recht auf medizinische Empfängnisverhütung durchzusetzen; es bedeutete die Abschaffung des Rechts auf »Wiederherstellung« der Ehre (wenn ein Mann früher seine Ehefrau oder ihren Geliebten tötete, wurde der Urteilsspruch gemildert, weil ihm das Recht zugesprochen wurde, seine Ehre zu verteidigen, die durch das Verhalten der Frau befleckt worden war). Weitere Errungenschaften waren Scheidung, Reform der Familiengesetzgebung, um das Sorgerecht nicht nur den Vätern, sondern auch den Müttern zu erteilen, Kliniken, die in Fragen der Sexualität Unterstützung gewähren sollten und das 1978 gebilligte Recht auf freie Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch – im selben Jahr wie das Gesetz 180 (welches die psychiatrische Versorgung liberalisierte mit der Forderung, die obligatorische Hospitalisierung im Falle psychiatrischer Erkrankungen nach Möglichkeit zu reduzieren), während bereits ein Jahr zuvor die Gesundheitsreform allen Bürgern kostenlose Behandlung zugestand.

Die Frauenbewegung organisierte sich in Selbsterfahrungsgruppen – kleinen Gruppen, in denen die Frauen ausgehend von dem Slogan »das Persönliche ist politisch« ihre bisherige Bildung sowie die Gesellschaftsstruktur hinterfragten und über ihre eigene Identität reflektierten in dem Bestreben, ihre eigene Stärke und Sicherheit in der Welt zu entwickeln. Mochte der Einfluss von Familie und Gesellschaft noch so schwerwiegend sein, dank der Unterstützung durch andere Frauen wurde rechtliche Sicherheit erworben, für das eigene Leben kämpfen zu können.

Ein Instrument dieser Selbsterfahrungsgruppen war die Praxis der Geschlechtertrennung: Die Frauen diskutierten miteinander unter Ausschluss der Männer – natürlich nicht aus ihrem Leben, sondern lediglich aus ihrer Genderbetrachtung. Auch Männer gründeten in jenen Jahren Selbsterfahrungsgruppen – wenn auch wenige an der Zahl –, und mir ist nicht bekannt, welchen Weg sie genommen haben.

Klinische Erfahrungen

Wende ich mich meinen eigenen Erfahrungen – zuerst als Klientin und später als Therapeutin – zu, so hatte ich das große Glück, mehrere Jahre einer Therapiegruppe anzugehören, die nur aus jungen Frauen bestand, und es tauchten Themen und Schwerpunkte auf, denen ich nie zuvor in gemischten Gruppen begegnet war. Natürlich kamen in diesen anderen Gruppen auch andere Aspekte zur Sprache. Was ich dabei lernte, war die Wertschätzung beider Erfahrungen in dem Wissen, dass jede von ihnen das Aufkommen bestimmter Erlebnisse fördert, andere jedoch in den Hintergrund treten lässt.

Auch später als Therapeutin leitete ich mehrere Jahre lang Gruppen gemeinsam mit einer Kollegin, und lange bestand unsere wöchentliche Gruppe nur aus Frauen. Das hatte sich zufällig ergeben, und dank meiner Erfahrung als Klientin konnte ich meiner Kollegin versichern, dass diese Gruppe nicht minder ergiebig sein würde als eine gemischte, und ich muss sagen, dass es in dieser Zusammensetzung möglich war, weitaus tiefgehender an vielen Arten von Missbrauch zu arbeiten, zum Beispiel an sexuellem Kindesmissbrauch, an Missbrauch durch die erotisierte Atmosphäre in bestimmten Familien, an Missbrauch durch bestimmte Erziehungsformen, von denen insbesondere Klientinnen berichteten, die schon in sehr frühen Jahren vom Spielen abgehalten worden waren, um in die Hausarbeit eingebunden zu werden. Einige hatten Geschirr gespült, als sie noch so klein waren, dass sie auf einem Stuhl stehen mussten, um das Spülbecken zu erreichen. Diese zuletzt erwähnte Erfahrung führte zu nicht weniger Leid, Unbehagen und Scham als die zuvor genannten und stellte eine Erziehungsweise dar, die durch Beschämung Unterwürfigkeit hervorrief.

Das lehrte mich, neben der individuellen Entwicklungsgeschichte auch die soziale und familiäre Herkunft eines Klienten zu berücksichtigen in einer Generationen umspannenden Mischung, die meines Erachtens neben der geografischen und sozialen Herkunft zunehmend Beachtung verdient.

Neben der bioenergetischen Arbeit mit diesen Themen fand ich es durchaus hilfreich, Klienten die Lektüre bestimmter Romane zu empfehlen, welche die vielfältigen Lebensbedingungen und Erziehungsmodalitäten perfekt zum Ausdruck bringen. Später stieß ich auf Forschungsergebnisse, die bewiesen, dass »gute Romane« in der Lage sind, im Leser Empathie zu wecken und Erfahrungen zu vermitteln, und das bestärkte mich in meinem Ansatz.

Ich möchte dem Gesagten nicht wesentlich mehr hinzufügen, wohl aber feststellen, dass man in gemischten Gruppen auf andere Weise mit den oben genannten Problemen umgeht. Einerseits kann ich bestätigen, dass die Solidarität männlicher Teilnehmer mit Sicherheit tröstlich gewirkt hat; demgegenüber gab es jedoch weniger Gespräche über das Leid angesichts des Erlebten. Die Scham, das Gefühl von Ungerechtigkeit und manche Erlebnisse kamen nicht zur Sprache. Sobald sich männliche Mitglieder der Gruppe anschlossen, änderten sich die Themen, und höchstwahrscheinlich wären bestimmte Themen ohne die Teilnahme von Männern unerforscht geblieben.

Ich hatte ebenfalls das Glück – so würde ich es nennen – zwei oder drei Mal Gruppensitzungen zu leiten, an denen zufällig ausschließlich Männer teilnahmen. Auch hier tauchten jedes Mal andere als die üblichen Themen auf; es kam zu tiefer Begegnung unter den Klienten, und ich hatte den Eindruck, dass schnell eine Gender-Solidarität entstand. Natürlich fragte ich mich, welchen Einfluss meine Gegenwart als Therapeutin hatte. Ich empfand Vertrauen und spürte, dass ich meinerseits den Klienten den Zugang zu ihren vertrauensvollen Gefühlen eröffnen konnte. Allerdings habe ich keine Vorstellung, welcher Art die Erfahrung einer reinen Männergruppe mit einem männlichen Therapeuten ist oder sein könnte. Letztendlich denke ich, dass die Arbeit in »separaten« Gruppen äußerst bereichernd sein kann und begleitend zu gemischten Gruppen von großem Nutzen wäre.

Doch zum Schluss möchte ich noch auf einen Aspekt zu sprechen kommen, der mir sehr am Herzen liegt und mich sehr schmerzlich berührt: die Qualität von Identität, Zurückhaltung und Scham, die ich heutzutage bei Klientinnen feststelle. Ich bin immer wieder überrascht, dass nicht nur einige Erkenntnisse verschwunden sind, um die die Frauen meiner Generation gerungen haben, sondern dass viele Frauen um die 40 – von jüngeren ganz zu schweigen – nicht einmal wissen, wovon wir reden. Ich sehe erneut Misstrauen in freundschaftlichen und solidarischen Beziehungen unter Frauen. Ich sehe Verhaltensweisen, die ich als sexuell ziemlich freizügig bezeichnen würde, deren Legitimität jedoch zugleich bezweifelt wird. Zuweilen sehe ich, dass junge Frauen zu Alkohol oder Drogen greifen, um am Ende eines Abends leichter zu sexuellen Begegnungen zu kommen, die dann dissoziiert stattfinden – die Fassade der Schamlosigkeit auf der einen und tiefe Schuldgefühle auf der anderen Seite.

Ich denke, dass viele junge Klientinnen in diesen Jahren besondere Formen der Zurückhaltung und Identitätswahrung entwickeln müssen, um ihre Selbstwahrnehmung und Selbstbeherrschung gegenüber einer Kultur zu stärken, die sie oft ermutigt, sich wie Prostituierte zu kleiden (ich weiß nicht, ob dies nur eine italienische Mode ist), und die sie wieder einmal dazu drängt, als Lebensziel einen reichen und/oder mächtigen Mann zu »ergattern«. Weibliche Zurückhaltung ist nicht dasselbe wie männliche, doch es gibt auch ein Recht auf männliche Zurückhaltung, das gegen eine Kultur verkündet werden muss, die häufig nach unverschämten und gewalttätigen Männern ruft – jenen, die glauben, dass »sie nie fragen müssen« (wie eine italienische Werbung lautet).

Schlussbemerkung

Ich schließe mit einer Passage aus einem anderen Artikel von Galimberti:

»Konformismus und Konsumdenken haben für die Verbreitung einer neuen Untugend gesorgt, die wir der Einfachheit halber ›Schamlosigkeit‹ nennen, was sich weniger auf ein sexuelles Szenario bezieht als auf den Fall jener Mauern, die es uns ermöglichen, Innerlichkeit von Äußerlichkeit zu unterscheiden, den besonnenen, einzigartigen, privaten, intimen Anteil eines jeden von uns vor seiner Darbietung in der Öffentlichkeit zu bewahren. Wenn wir ›intim‹ nennen, was wir dem Außenstehenden vorenthalten, um es denjenigen zu überlassen, denen wir gern Zutritt zu unserem geheimen Inneren gewähren möchten, dem tief Verborgenen und uns oft Unbekannten, dann schützt die Zurückhaltung, die unsere Intimität hütet, zugleich unsere Freiheit. Und sie schützt sie in jenem Kern, in dem unsere persönliche Identität entscheidet, welche Art der Beziehung wir mit dem anderen eingehen wollen. Zurückhaltung ist demnach nicht eine Frage der Kleidung, der Unter- oder Intimwäsche, sondern eine Art Wachsamkeit zum Erhalt der eigenen Subjektivität, wie um in Gegenwart des anderen auf geheime Weise im eigenen Inneren zu sein« (Galimberti, 2004, S. 21).9

Übersetzung: Irma Diekmann

Literatur

Galimberti, U. (2002). Il mercato dell’intimità. Roma: La Repubblica.

Galimberti, U. (2004). Ai tempi del desiderio cosa resta della vergogna. Roma: La Repubblica.

Lowen, A. (1995). In favore della modestia. Anima e Corpo, 2, 9–15.

Manzoni, A. (1827). I Promessi Sposi. Milano: Tipografia Guglielmini e Radaelli.

Stern, D. (1992). Diary of a Baby. New York: Basic Books.

Treccani Dictionary online

Zoja, L. (2016). Centauri. Alle origini della violenza maschile. Torino: Bollati Boringhieri.

Die Autorin

Rosaria Filoni studierte Philosophie und ist Psychologin und Psychotherapeutin, Supervisorin und Local Trainer, Training Director für Bioenergetische Analyse für Siab. Sie hat ihre private Praxis in Rom.

mariarosaria.filoni@fastwebnet.it

Anmerkungen

[1]
Anm. der Übersetzerin: Weder »Bescheidenheit« noch »Zurückhaltung« sind in diesem Textzusammenhang vollauf befriedigende Übersetzungen von Lowens Begriff »mod­es­ty«. Bescheidenheit hat eher die Konnotation von Genügsamkeit und Anspruchslosigkeit, während Zurückhaltung – der hier bevorzugte Begriff – im Gegensatz zum impulsiven Agieren eine frei gewählte Selbstbeherrschung meint, die auf Selbstbesitz, Individualität und achtsamer Selbstwahrnehmung beruht.
[2]
Anm. der Übersetzerin: Um die Lesbarkeit nicht zu beeinträchtigen wird – auch wenn beide Geschlechter gemeint sind – nur die maskuline Form verwendet.
[3]
Leider steht mir nicht das Original, sondern nur die italienische Übersetzung zur Verfügung.
[4]
In diesem Artikel verwende ich das Wort Subjektivität in einem philosophischen Sinn: »der Charakter des Subjekts als solches und auch das Subjekt selbst« (Treccani Dictionary online).
[5]
Die Legende sagt, dass die Männer bei der Gründung von Rom bemerkten, dass es keine Frauen gab, und daraufhin ein Nachbarvolk – die Sabinerinnen – entführten. In den Grundschulen wird die Geschichte so erzählt, dass die Frauen zum Putzen und Kochen gebraucht wurden, und sich, als die Sabiner Krieg gegen die Römer führten, zwischen die Armeen stellten, da sie mittlerweile ihren Entführern zugetan waren.
[6]
I Promessi Sposi (deutsch: Die Brautleute), ein dreibändiger berühmter italienischer Historienroman von Alessandro Manzoni (1827).
[7]
Zur Zusammenfassung: Die junge Dorfbewohnerin Lucia, die mit Renzo verlobt ist, wird von einem städtischen Edelmann begehrt und geht durch zahllose Wechselfälle des Lebens, einschließlich einer Entführung, bevor sie Renzo heiraten kann.
[8]
Siehe Lowen (1995)
[9]
Anm. der Übersetzerin: Der Text lag nicht in der Originalfassung vor; die deutsche Übersetzung aus dem Englischen stammt von der Übersetzerin.